: Statistik demaskiert Bonn
Mit der steigenden Zahl von gewalttätigen Demos waren Gesetzesverschärfungen begründet worden / Statistik enthüllt: Demonstrationen werden immer friedlicher ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Das Demonstrationsrecht ist ohne Grund verschärft worden. Zu dieser Einsicht müßte die Regierungskoalition in Bonn gestern gekommen sein - müßte, wenn offizielle Begründung und wahrer Grund für die Verschärfung eins wären. Die Zahl gewalttätiger Demonstrationen hat nämlich entgegen allem, was die Bundesregierung bisher behauptet hat, nicht zugenommen. Herauszulesen ist dies aus einer Antwort des Innen- und Justizministeriums auf eine Anfrage der Grünen. Das wichtigste Argument für die im letzten Jahr beschlossene Beschneidung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit durch das sogenannte Artikelgesetz fällt damit weg.
Einige Einzelheiten aus der Antwort: Seit 1968 ist die Zahl der als gewalttätig eingestuften Demonstrationen fast kontinuierlich gesunken. Zwischen 1968 und 1969 waren noch knapp 25 bzw 36 Prozent „unfriedlich“. In den letzten sechs Jahren kamen nicht einmal mehr 4 Prozent zusammen, 1988 gar konnte die Polizei nur noch 1,87 Prozent verzeichnen.
„Selbst diese Angaben geben aber noch ein falsches Bild“, meinen die Grünen. Tatsächlich erfassen die regierungsamtlichen Statistiker nicht nur Demonstrationen, auf denen Steine und Molotow-Cocktails fliegen, sondern auch Sitzblockaden von Atomwaffenlagern. Dabei waren etwa 1987 von 289 „unfriedlichen“ Demonstrationen 128 Sitzblockaden. Die Grünen monieren auch, daß die Sicherheitsbehörden bei ihrer Zählung nicht nach Größe der Demos unterschieden haben - ob 3 Leute oder 300.000 Teilnehmer: die Statistik erfaßt sie gleichermaßen. „Unfriedlichkeiten“, müssen außerdem nur in irgendeinem Zusammenhang mit der Demonstration stehen, schon gilt auch diese als unfriedlich. Sachschäden anläßlich von Demonstrationen nehmen zu, behaupten Politiker seit Jahren. Keine Statistik erfaßt sie jedoch. Auch die These von der angeblich zunehmenden Gewalt gegen Polizeibeamte wiederlegt die Bundesregierung in ihrer Antwort eher: Die Zahl verletzter Polizeibeamter habe absolut und relativ abgenommen.
Wann ist eine Demonstration unfriedlich? Dann, wenn während ihres Verlaufs „Straftaten unter Gewaltanwendung, Gewaltandrohung oder Aufforderung zur Gewaltanwendung begangen worden sind, oder wenn gegen die Paragraphen 130, 130a Absatz 2, 131, 140 Nr.2 verstoßen wurde“, bescheidet die Bundesregierung. Aufschluß darüber, wie gewalttätig im üblichen Sinne eine Demonstration ist, geben diese Kriterien nicht. Gewalttätig ist nach überwiegender Rechtsprechung nämlich schon, wer sitzend die Zufahrt zu einem Giftgasdepot blockiert oder auch nur dem Blockierenden klatschend Beifall zollt. Lobt etwa der Redner einer Kundgebung eine Bauplatzbesetzung, die ein paar Jahre zuvor stattgefunden hat, so kann er wegen dem Paragraph 130 II a Strafgesetzbuch (Anleitung zu bestimmten Straftaten) belangt werden seinetwegen rutscht diese Demo dann als „unfriedlich“ in die Statistik.
Schließlich ist Gewalt laut Statistik schon, was der Einsatzleiter vor Ort für gewalttätig hält - gleichgültig, ob die Demonstranten später freigesprochen werden oder nicht. Die Rechtfertigung der Ministerien: „Eine Erhebung erst von Gerichtsurteilen und rechtskräftigen Bußgeldbescheiden nähme der Statistik ihre Aktualität.“
„Die Behauptung der Bundesregierung, die Gesetze zur Beschneidung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit seien erforderlich, um der angeblich steigenden Gewalt bei politischen Kundgebungen zu begegnen, sind zerplatzt wie eine Seifenblase.“ So kommentieren die Grünen die Antwort der Bundesregierung auf ihre Anfrage. Gegen das Artikelgesetz, das vor allem mit Hilfe der These von der steigenden Anzahl gewalttätiger Demonstrationen öffentlich legitimiert und durchgepeitscht wurde, legen sie möglicherweise eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht ein.
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