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Der Schnee hat sechs Ecken

Jürgen Albrechts Neuestes: „Keplers Traum“ / Buch mit Lesung sine qua non  ■  hier den Mann

mit Bart

Gesetzt den Fall: Wir kennen Jürgen Albrecht nicht und dürfen ihn nicht „Ali“ nennen; wir kennen nicht „Landru„; wir haben keine Rezension zu „Keplers Traum“ gelesen, kein Interview gehört, keine Dichterlesung besucht. Wir schlagen „Keplers Traum“ auf. Wir lesen von einem Privatdozenten an der Universität Erlangen, der einen Termin beim Rektor hat und sich eine Ehrung erhofft. Er hat einen schwarzen Schopf und wird enttäuscht. Nachdem ihn die hagere Sekretärin eingelassen hat, erfährt Doktor Seidenschwarz von seiner Entlassung. Voller Aufruhr fährt er nach Regensburg, seiner Stadt, und fühlt sich sicherer. Sein Freund Federl, Hutmacher, bimst den Filz und sagt kein Wort mehr. Die Sonne scheint heftig. Seidenschwarz bekommt den Auftrag, eine Festrede auf den Astronomen Kepler zu schreiben, auf Seite 33 erfahren wir, daß die Geschichte in den Dreißigern spielt, auf Seite 36, daß der Gefeuerte Jude ist und der Krieg noch nicht angefangen wurde. Mißgelaunt wegen der dunkelbraunen Aktentasche, der

schief auf dem Kopf sitzenden Mütze des Fuchsmajors und der trivialen und grundlos wuchernden inneren Monologe und Beobachtungen des Seidenschwarz (zum Abschied reicht der Oberbürgermeister ihm die lange, dünne Hand) legen wir das Buch beiseite. Nichts zwingt, es weiterzulesen.

Andersrum. Sonntag, 11 Uhr, Schauburg. Dreißig Jenseitsvierziger versammeln sich um Kaffee, Buffet und Ali. Wir lassen uns was vorlesen. Tisch, Stuhl und Buch im Dämmerkinosaal, der Poet gelöst bis auf die Hand in der Hosentasche. „Keplers Traum“ spielt 1930, vor den „Septemberwahlen“, die den Nazis einen sechsfachen Stimmenanteil bringen. Der Rhetoriker, Sozialdemokrat und Jude Seidenschwarz soll eine Lobrede auf Kepler schreiben. Auftraggeber und derjenige, der die Rede halten wird zum 300. Todestag des großen Regensburgers, ist der Fürst. Jürgen Alberts, freier Journalist in Bremen (Klappentext), erzählt von ertragreichen Recherchen in Regensburger Archiven zur Kepler-Feier, deren Höhepunkt die Festlichkeiten in der Walhalla, der „Ruhmeshalle“ voll deutscher Berühmtheiten war. Die ganze Nazi-Programmatik, „das alles war schon da“. Der Fürst war bayerischer Kultusminister, seine Lobrede sang von der Sehnsucht nach aufrechten Führerpersönlichkeiten. Es war nicht die Rede Seidenschwarz‘.

Seidenschwarz hatte sich nie mit Naturwissenschaft befaßt. Doch Kepler ist eine Entdeckung, die ihn beflügelt - und abstürzen läßt. Ein Mann lebt von der Astrologie (Kepler voraussagte mehr

fach erfolgreich), erfindet nützliche Dinge wie die Luftpumpe, entdeckt grundlegende Gesetze der Astronomie (Berechnung der Planetenbahnen) und bleibt dabei ein Träumer und Phantast, postuliert musikalische Harmonie in Natur und All, schreibt einen Science Fiction über eine Mondreise.

Hörspielchef Günter Bommert erklimmt das Podium, nimmt neben dem Autor Platz. Bommert spricht den Part des Rabbi im Dialog mit Seidenschwarz. Ist Rabbi Blum, der sich gegen die Vereinnahmung Keplers durch die Aufklärung / die Sozialdemokratie wendet. Ich will Skeptiker bleiben, sagt der Rabbi, und: Ich sehe Blut und nochmals Blut. Keplers Modelle funktionieren, sind sie deshalb wahr? Ist Gott in der Sechseckigkeit des Schneekristalls?

Seidenschwarz scheitert. Seine Lobrede auf Kepler (dritte Version) gerät antifeudal und wird von Seiner Durchlaucht zer

fetzt. Die Kepler-Büste in der Ruhmeshalle ist eine Fälschung. Keplers Gesetze überstürzen und verhaspeln sich, jetzt holten ihn die (astronomischen) Geschwindigkeiten ein: Ein Atemzug, dann zerbricht er / die Knochen gebrochen verkocht / fliegt federnd hinweg / der Faktenmelker / hinüber ins Licht / ... der Mondträumling / und Keplerianer / Ahner.

Jürgen Albrecht schreibt Krimis im Schnellschußverfahren. Aber: Zwei Autoren schlagen in meiner Brust herum, mit „Keplers Traum“ hat er ein Buch über die Angst geschrieben und die Schwäche von Modellen. Es geht um die Verringerung der Zufälle, sagt der Rabbi, wer Gründe für die Sonnenfinsternis angeben kann, kann die Angst davor vergessen. - Das Buch steckt noch voller anderer Stockwerke. Deren Entdeckung erfordert Zählesigkeit oder eben eine schöne Lesung. (Klett-Cotta, 276 S., 36 DM)

Burkhard Straßmann

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