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„Die Chance dieses Sommers“

■ Einer, der von drüben kam, um nicht hierzubleiben: Mit der Fluchtwelle als Urlauber in die BRD / „Für mich war immer klar, daß ich zurückfahre“

Auf der Fluchtwelle aus Ungarn über Österreich in die Bundesrepublik schwammen auch einige DDR-Touristen mit. Die taz sprach in Hannover mit einem von ihnen, bevor er über Budapest zurück in seine Heimatstadt Dresden fuhr. Inzwischen wurde bekannt, daß mehrere DDR-Bürger bei einem Ausflug in Wien fotografiert und nach ihrer Rückkehr gerichtlich belangt wurden. Sie erhielten Ordnungsstrafen von mehreren tausend Mark und ein fünfjähriges generelles Reiseverbot.

taz: Wie bist Du nach Hannover gekommen?

Als ich über das Fernsehen erfahren habe, daß österreichische Touristenbusse von der Zugliget-Kirche in Budapest nach Bayern fahren, um DDR-Bürger dorthin zu bringen, dachte ich, das ist die Chance dieses Sommers. Mein Wunsch, mal in den Westen zu reisen, war plötzlich ganz einfach erfüllbar geworden. Eine Reise nach Ungarn hatte ich ohnehin gebucht, so flog ich am Sonntag nach Budapest und saß am Montag schon im Bus nach Freilassing. Über München, Köln, Hamburg bin ich hierher nach Hannover gekommen. Dort (Hier!?) hatte ich Adressen von Freunden.

Wie haben Deine Freunde reagiert, als Du plötzlich vor der Tür standest?

Zuerst mit ein wenig Entsetzen, daß ich bleiben würde, dann mit sichtlicher Erleichterung, weil ich gleich sagte, daß ich zurückfahren werde. Wenn ich ein Flüchtling gewesen wäre, hätte das für sie einige Belastungen gebracht.

Du meinst also, sie waren herzlicher zu Dir, weil Du nicht dableiben wolltest?

Ja, sicher. Vermutlich hätten sie mich nach kurzer Zeit gebeten, eine eigene Wohnung zu suchen und für mich selbst zu sorgen, denn ein Dauerbesuch bedeutet auch eine finanzielle Belastung.

Welche unerwarteten Eindrücke hast Du auf Deiner Reise bisher gehabt?

Die Vorurteile wurden nicht bestätigt, die Reisende aus der (???) DDR und das Westfernsehen in mir aufgebaut haben. Das Gras ist nicht grüner, der Rhein ist sauberer, als ich dachte, Hamburg ist eine ziemlich dreckige Stadt. Vor allem aber fiel mir auf, daß die BRD ohne die Ausländer viel farbloser und langweiliger wäre. Diese Vielfalt von Kneipen, Läden und Menschengruppen ist in der DDR nicht vorhanden, und dadurch wirkt das Land auch blasser. Deshalb verstehe ich auch die ganze Diskussion um die Ausländer nicht; man müßte froh sein, daß die hier sind.

Was hat Dich in dieser Vielfalt am meisten beeindruckt?

Die Exotik in einer normalen Markthalle. Die vielen verschiedenen Sorten von Gemüse, Obst und Südfrüchten. Das erscheint farbenprächtig und zugleich verschwenderisch. Ich fragte mich, was machen die mit dem ganzen Zeug, was nicht gekauft wird, und wie funktioniert das Ganze überhaupt, der Einkauf, der Transport, die Lagerung, Absatz, die Gewinn und Verlustrechnung.

Hast Du daran gedacht, im Westen zu bleiben?

Für mich war immer klar, daß ich zurückfahre. Einige meiner Bekannten erklärten mich natürlich für blöd. Ihr Kommentar war, im Osten wird man doch nur belogen und betrogen.

Was hast Du ihnen darauf geantwortet?

Klar, in der DDR ist vieles mies, aber eben nicht alles. Im Westen herrscht auch nicht die reine Demokratie. Der westdeutsche Wohlstand profitiert stärker von der Armut anderer Völker als die DDR. Dort wird mit Hilfe von Macht unterdrückt und hier mit der Macht des Geldes. Ich denke, daß bald Veränderungen in der DDR kommen, nur wird es noch eine ganze Weile dauern, daß man nicht ständig belogen und um ein freieres Lebensgefühl betrogen wird. Dort auszuharren, erfordert tatsächlich eine Engelsgeduld.

Was denkst Du über die DDR-Bürger, die jetzt zu Tausenden hierherkommen?

Ein Teil hat sich diesen Schritt wahrscheinlich nicht gründlich genug überlegt. Es gibt so etwas wie eine Torschlußpanik: Schnell weg, bevor es schlimmer wird. Dabei sind die meisten der Flüchtlinge eher apolitisch. Zwischen ihnen und den kleinen Oppositionsgruppen gab es keinen Kontakt. Und hier im Westen werden sie sich schnell mit den angebotenen Ablenkungen befrieden lassen und sich kaum in die Politik einmischen.

Du willst über Ungarn zurück in die DDR fahren. Befürchtest Du, Probleme mit der Polizei zu bekommen?

Wenn man so wie ich jetzt zum ersten Mal fast selbstverständlich die Grenze zwischen Ost und West überquert, erscheinen die kleinlichen Schwierigkeiten mit den DDR-Behörden absurd und lächerlich. Die sollen froh sein, daß sie trotzdem noch treue Staatsbürger haben. Erst wenn der Stasi mir beweist, daß ich hier war, glaube ich selbst daran!

Interview: Birger Deutsch

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