: Die Prager Botschaft ist schon wieder voll
■ Einen Tag nach der spektakulären Ausreise wird die BRD-Botschaft in Prag bereits wieder von 1.000 Ausreisern bevölkert / DDR-Führung verlangt ihre Ausweisung / Maxime der DDR-Regierung gegenüber der eigenen Bevölkerung: Gesicht wahren nach außen, gegenüber der Opposition keinen Deut nachgeben
Prag / Warschau / Berlin / Bonn (dpa/afp/ap) - Kaum sind 6.000 DDR-Ausreiser in der Bundesrepublik eingetroffen, ist die Prager Botschaft der BRD auch schon wieder voll: Nachdem bereits gestern abend über zweihundert Flüchtlinge „zur vorübergehenden Betreuung“ aufgenommen wurden, erhöhte sich ihre Zahl am Montag auf über 1.000. Die DDR hat laut 'adn‘ die Bundesregierung noch am Montag aufgefordert, die in den Bonner Botschaften in Prag und Warschau weilenden DDR-Bürger aus den Missionen auszuweisen. In einem mündlich vorgetragenen Protest bei Kanzleramtsminister Seiters beschuldigte der ständige Vertreter Ost-Berlins in Bonn, Horst Neubauer, die Bundesregierung zugleich, sich nicht an Absprachen bei der Ausreise der gut 6.000 Botschaftsflüchtlinge gehalten zu haben. Von verantwortlichen BRD-Politikern seien „bewußte Falschdarstellungen über den Ablauf der Aktion am 30.9./1.10. in Umlauf gebracht“ worden.
Mit der spektakulären Einwilligung, ihre Staatsbürger aus den bundesdeutschen Missionen in Warschau und Prag über DDR -Territorium ausreisen zu lassen, hatte die DDR in letzter Minute noch einen Versuch unternommen, anläßlich der bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40.Jahrestag der Republik ihre mühselig erlangte internationale Anerkennung zu retten. Der Chefkommentator der Zeitung des DDR-Jugendverbandes 'Junge Welt‘ spricht denn auch in der Montagsausgabe von einem „Nachgeben“ der DDR. Er scheue sich nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen, weil „es um Menschen geht und die politische Vernunft ein verantwortungsvolles Handeln gebietet“. In diesem Moment dränge es, wieder „die Akzente der Diskussion auch auf das zu lenken, was wohl den einzelnen bewogen haben mag, sich in den BRD-Botschaften von Prag und Warschau in eine unwürdige Situation zu begeben, die DDR zu verraten und die Gesundheit der eigenen Kinder aufs Spiel zu setzen“.
Wie sich am Wochenende zeigte, bleibt die DDR-Führung innenpolitisch dagegen bei ihrem harten und kompromißlosen Kurs. Am Sonntag versuchten Sicherheitskräfte ein Treffen oppositioneller Kreise in Ost-Berlin zu verhindern. Sechzig Künstler, Wissenschaftler, Pfarrer und Autoren waren zusammengekommen, um die Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ zu gründen. Einer ihrer federführenden Initiatoren, der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter, war zuvor in seinem Wohnort unter Hausarrest gestellt worden. Nach Angaben des prominenten Ostberliner Pfarrers Rainer Eppelmann versuchten Polizeikräfte zeitweilig sogar, dem Bischof von Berlin -Brandenburg, Gottfried Forck, den Zutritt zur Kirchengemeinde zu verwehren. Mitarbeiter hatten ihn um Hilfe gerufen, als Sicherheitskräfte den Zugang zur Kirche blockierten. Auch die Wohnungen anderer bekannter Oppositio
Fortsetzung auf Seite 2
FORTSETZUNGEN VON SEITE 1
neller aus Kirchenkreisen wurden von den Mitarbeitern der Staatssicherheit umlagert.
Trotz der Behinderungen konnte die Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ am Sonntag ihre konstituierende Sitzung abhalten. Ihre offizielle Zulassung will sie demnächst bei den DDR -Behörden beantragen, um für die nächsten Wahlen in der DDR auch eigene Kandidaten nominieren zu können.
Das Neue Forum gab bekannt, ihr Aufruf, in dem überfällige Refor
men für die DDR eingeklagt werden, sei mittlerweile von 5.000 Menschen unterzeichnet worden. Einer seiner Mitinitiatoren, der Ostberliner Maurer Reinhard Schult, äußerte sich gegenüber dem 'Stern‘, die Gruppe werde bei den Behörden auch eine Lizenz zur Herausgabe einer eigenen Zeitung beantragen. Die Gruppe, der letzte Woche vom Innenministerium die Gründung als Vereinigung untersagt worden war, wird sich nach Aussagen Schults demnächst trotzdem auf Wohngebiets-, Stadtgebiets- und Bezirksebene organisieren.
Nicht nur in der Prager Botschaft ist gestern die Zahl der Flüchtlinge
wieder gestiegen. Auch in Warschau haben sich erneut 100 DDR -Bürger in der bundesdeutschen Botschaft eingefunden, die ihre Ausreise in die BRD erzwingen wolten. Beobachter in Prag berichteten von dramatischen Vorfällen und brutalem Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen DDR-Bürger.
In einem Gespräch mit der 'Bild'-Zeitung bekräftigte der DDR-Rechtsanwalt Vogel, die Ausreisegarantie für Flüchtlinge bestehe weiter, sollten DDR-Bürger die bundesdeutschen Missionen verlassen. Die Sechsmonatsfrist solle, so Vogel, möglichst noch unterschritten werden. Auch für DDR-Bürger,
die in den nächsten Wochen in Botschaften der BRD Zuflucht suchten, gelte die Garantie, daß sie bei Rückkehr in die DDR binnen dieser Frist ausreisen könnten.
Vogel wies Vorwürfe zurück, DDR-Bürger, denen er Straffreiheit zugesichert hatte, seien nach ihrer freiwilligen Rückkehr in die DDR verhaftet worden. Er räumte ein, daß es sich dabei um „bürokratische Pannen“ gehandelt habe, die sofort von ihm korrigiert würden.
Kritik an der Rechtspraxis der DDR übte auch der DDR -Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, dessen Mandanten wegen Republikflucht verurteilt worden sind. Er kündigte an, bei der
DDR-Justiz die Freilassung aller seiner Mandanten zu beantragen. Es habe eine „schmerzhafte Betroffenheit“ bei ihm und vielen seiner Kollegen ausgelöst, daß die Regierung „jede Rechtsstaatlichkeit aufgegeben“ habe, sagte Schnur. SED-Funktionäre müßten sich jetzt von ihren eigenen Genossen fragen lassen, warum sie „Gesetzesverletzer“ ungestraft laufen ließen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen