: Der Geschmack von Freiheit und Herbsteskälte
■ Wohnen im östlichsten Westen (westlichsten Osten?) / Ein Spaziergang zu den Siedlern an der Mauer in Kreuzberg: Die Motive sind völlig verschieden / Kälte, Polizei, Neonazis und alkoholisierte Normalbürger machen das Leben schwer / Es fehlt an Strom, Wasser und Toiletten
Um das Lagerfeuer vor der mit bunten Graffities bemalten Mauer sitzen zwei junge Männer mit gefärbten Haaren. Daneben zersägt einer Paletten zu Kleinholz. Neben ihnen, auf dem DDR-Streifen entlang der Kreuzberger Waldemarstraße, stehen ausrangierte Bauwagen. Ohne Wasser und Strom, jedoch mit einem „anderen Wohngefühl“, wie es Christian leidenschaftlich formuliert, hausen dort rund zehn Wohnungslose.
Die Bauwagen-Siedlung in der Waldemarstraße ist die jüngste dieser Art. Vor drei Wochen hat sich diese Gruppe von der „Wagenburg“ am Bethaniendamm wegen Überfüllung abgetrennt und einige hundert Meter weiter niedergelassen. Keineswegs wollten sie „in die Schublade der Obdachlosigkeit“ geschoben werden, betonen die Bewohner und auch keine „Kampagne für Wohnraum“ machen. Zwar seien sie wohnungslos, doch lieber als die Vermittlung einer Wohnung wäre ihnen eine Legalisierung von Bauwagen-Kolonien in West-Berlin. Einer von ihnen hat seine Wohnung sogar an jemand anderen „verschenkt“, weil er „keinen Bock mehr auf diese kleinbürgerliche Schachtel“ hatte. Das Wohnen auf dem beweglichen Untersatz betrachten sie als ein „Stück Freiheit“. * * *
Auch den Bauwagen-Siedlern hinter der Thomas-Kirche am Bethaniendamm geht es „nicht primär“ um Wohnraum. Sie wollten vielmehr die Schutzzone an der Grenze für politische Arbeit nutzen und künftige Hausbesetzungen unterstützen, berichtet Otto. An der Mauer solle demnächst eine Leinwand für ein Freiluft-Kino aufgehängt werden, in dem politische Filme vorgeführt werden sollen. Darüberhinaus planen sie, ein Veranstaltungszentrum zu errichten, wozu sie derzeit noch eifrig auf der Suche nach Baumaterialien seien. Doch ein Großteil ihrer Zeit verbringen die Besetzer des brachliegenden DDR-Geländes notgedrungen mit der Organisation des Alltags. Um aufs nächste Klo zu kommen, müssen sie erst einen Fußmarsch von rund 200 Metern zurücklegen. Zum Waschen muß erst Wasser in Eimern und Kanistern herbeigeschafft werden. „Alles kostet hier wahnsinnig viel Energie“, klagt Otto. Und dazu müßten sie noch des öfteren diverse Provokationen von der Polizei ertragen. Nicht selten würden auf dem Weg zu den Bauwagen ihre Personalien kontrolliert. Nachts führen regelmäßig Streifenwagen dicht an der „Wagenburg“ vorbei und leuchteten mit grellen Suchscheinwerfern die Fenster der schlafenden Besetzer ab. Und sogar zweimal schon hätten uniformierte Kameraleute den besetzten DDR-Streifen gefilmt.
Nachdem flanierende „Normalbürger“ und martialisch daherkommende Neofaschisten immer wieder „Drohungen“ über die Grenze zur „Wagenburg“ gemault hätten, haben die BesetzerInnen nun eine regelmäßig rotierende Nachtwache eingerichtet. Ein versuchte Angriff konnte bereits abgewehrt werden: Im Sommer überraschte sie eines Nachts ein mit hoher Geschwindigkeit herbeirasendes Auto, das mit quietschenden Reifen vor den Bauwagen stoppte. Eine Gruppe wütender Männer sprang heraus und bewarf die Buden mit Steinen.
Zu den ursprünglichen Initiatioren der „Wagenburg“, der Obdachlosenhilfsgruppe „Kiezdach“, sei der Faden aus politischen Gründen längst abgerissen, berichtet Otto. Die Kiezdach-Ini, die am 1.Mai mit der Aktion begonnen hatte, habe sich schon im September zurückgezogen, nachdem zunehmend Leute hinzugekommen seien, „die einen politischen Widerstand aufbauen wollten“. Am dringlichsten fordern die Wagenburg-Bewohner Wasser- und Stromanschluß, einen Toilettenwagen, eine offizielle Postanschrift - und vor allem Ruhe vor der Polizei. * * *
Rund 200 Meter weiter, direkt an der asbesthaltigen Thomas -Kirche, die im April vorübergehend besetzt wurde, haben obdachlose Punks eine Hütte vor dem verriegelten Eingang errichtet. Gerade zwei Matratzen passen dort rein. Mit dem Einbruch der Kälte seit Anfang des Monats sind ihnen die dürftig zusammengezimmerten Bretterwände nun allerdings zu windig geworden. Ihre Schlafsäcke wurden bereits „gerippt“. Nun haben sich die beiden bei Bekannten als Schlafgäste einquartiert. Abends, wenn sie etwas „Kohle zusammengeschnorrt“ haben, sitzen sie mit ihren Hunden „die besten Freunde“, wie Lulu meint - vor dem Lagerfeuer und braten in den lodernden Flammen ihre Kartoffeln. Einen eigenen Bauwagen können sich Lulu und sein Freund erst gar nicht leisten, klagen sie. * * *
Ganz anders ist die Einstellung der Grenzgänger am Lohmühlen -Ufer hinter dem Görlitzer Bahnhofsgelände. Elf Personen haben bereits vor drei Monaten dort wegen Obdachlosigkeit ihre Zelte aufgeschlagen. Zwischen Landwehr-Kanal und Mauer warten sie auf Wohnungen, die sie nur auf legalem Wege annehmen wollen. Eine Einladung von HausbesetzerInnen haben sie abgeschlagen, weil sie „nichts tun wollen, was gegen ein Gesetz verstößt“, erläutert ein Camper. Auf die DDR -Ausreiser sind einige von ihnen sauer, weil diese großzügig vom Westen in Empfang genommen würden: „Ja sind wir denn Aussätzige, nur, weil wie schon immer im Westen waren?“, protestiert einer, der der Jahre in Obdachlosenasylen untergebracht war. * * *
Unmittelbar nach dem Besuch der taz hat sich die in direkter Nachbarschaft befindende „Siedlung Neu-Treptow“ (die taz berichtete) offenbar aufgelöst. Letzter Brief, der bei der taz einging: „Die Siedlung Neu-Treptow gibt es seit dem 4.10. nicht mehr. Alle Hinweisschilder, Lappen und Stelltafeln sind entfernt. Kamerad Mob und Kumpel Alk haben wieder einmal gewonnen. Macht aber nix. Einmal verloren, heißt nicht für immer verloren.“
Rainer Kreuzer
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