KEINE BLUTSPUREN

■ Im Nachlaß des Komponisten Bernd Alois Zimmermann

Ein anständiges Haus mit vielen Klingelknöpfen. Neben einem steht Ausstellung. Der Summer tönt, die Tür fällt ins Schloß, die Luft schmeckt frisch gestrichen. Spiegel im lichten Flur, alles auf einen Blick: einmal muß man rummarschieren, im Kreis ist der Anfang das Ende. Räume in edlem Grau wie der Katalog, wie die Zeichen auf dem Prospekt - der Besuch beim Komponisten Bernd Alois Zimmermann ist eine Zeitreise zurück in die fünfziger Jahre. Der Kragen wird eng, der Mantel raschelt zu laut. Unter Glas liegt die Musik und schläft: als Autograph und Erstdruck, Skizzen, Notizen, Partituren. Klösterliche Stille.

Zimmermann zählt „zu den großen Komponisten der Bundesrepublik Deutschland“ - so steht es im Faltblatt der Akademie der Künste, die seinen jüngst erworbenen Nachlaß für ein paar Monate öffentlich zugänglich macht. Nicht der Moderne oder des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern, mit Betonung, der BRD. Weiter heißt es warnend: „Nicht wenigen wird eine Musikausstellung eine Zumutung bleiben.“ Das stimmt. Nur Eingeweihte finden hierher, nur Kundige können etwas anfangen mit den Exponaten - aber es sind immerhin bis zu zehn Besucher pro Tag. Und jeder, der kommt, ist allein mit sich und der Stille. Nichts zu gucken, man muß selber sehen. Selber hören: im Scheitel des Kreises, quasi in der Apsis der Ausstellung, findet sich eine Audiothek. Über Kopfhörer werden die Musiken wach, etwa Zimmermanns letztes Orchesterstück Stille und Umkehr: ein Ton, der irgendwie anfängt und irgendwann aufhört, der dauert und atmet - ein einziger Ton: d. Nichts weiter.

d ist der Ton an sich, die dorische Mitte. Der lebt und bewegt sich, wie ein gefangenes Tier. Denn obwohl man genau hört, daß er gemacht ist - von den Celli zuerst und dann von den Bläsern und dann wieder von Streichern, dazu eine Harfe, ein Akkordeon und die singende Säge: dieser Ton kommt aus sich, er ist nicht gemacht, sondern selbst Kreatur. Sein Pulsieren rührt ja nicht her vom Wandern der Klangfarben und auch nicht von dem rhythmischen Ungefähr des Blues-Drummers, der ihn begleitet wider alle Vernunft bis zum Schluß. Der Ton ist lebendig: quält sich, windet sich, leidet. Am liebsten möchte man ihn ignorieren und abschalten - aber gerade das bringt man nicht übers Herz. Schließlich ist es ein Stück Wirklichkeit, und die dauert, so lange sie dauert. Genau genommen dauert sie etwas über neun Minuten. Und dann ist eines gewiß: Solche Musik läßt sich nicht einfach anhören und für gut oder für schlecht befinden. Dazu ist sie zu furchtbar schön.

War Zimmermann ein politischer Komponist? Drei Treppen höher sitzt Zimmermann-Experte Dr. Klaus Ebbeke (der den Nachlaß betreut und die Ausstellung besorgt hat) und meint dazu: Eigentlich glaube ich schon. Was heißt eigentlich? Was heißt politisch? Er ist natürlich nicht auf die Straße gegangen. Er hat keinen politischen Anspruch formuliert für seine Musik, wie es zum Beispiel Hans Werner Henze macht. Aber dafür ist das Zeitgeschehen viel direkter eingedrungen in seine Stücke. Bei Henze ist die politische Botschaft das eine, und das andere ist eben Kunst: so etwas Nettes, Ausgeglichenes. Die Komposition ein kristallines Gebilde, mit der Tendenz zum Idyll. Zimmermann dagegen wußte, daß reine Musik, beispielsweise ein Bläserquintett, etwas Harmonisierendes hat. Daß da etwas nett gemacht wird, was nicht nett ist. Deswegen gibt es von Zimmermann auch keine echte Kammermusik.

Henze avancierte alsbald zum Wirtschaftswunderkomponisten der BRD. Freilich hat die Geschichte der Bundesrepublik in den Fünfzigern und Sechzigern nicht nur die glatte, glänzende Außenseite des Aufbaus, sondern auch ihre muffigen Innenseiten, mit all den unter den Tisch gekehrten Tabus. Ebbeke ergänzt: Auch Stockhausen ist natürlich ein Wirtschaftswunderkomponist. Für die junge Komponistengeneration war das Jahr '45 die Stunde Null. Wenn man grob sein will, kann man sagen, die serielle Musik war nur der Wunsch, alles anders zu machen als die Väter. Zu brechen mit der Tradition einer Ausdrucksmusik, die ja gesellschaftlich gebunden ist, und gerade das schien durch den Nationalsozialismus diskreditiert. Sie wollten eine neue, saubere Musik - sozusagen Musik nach Naturgesetzen: die nicht mehr von gesellschaftlichen Umständen abhängt. Zimmermann war rund zehn Jahre älter als Stockhausen oder Henze - 25 Jahre bei Kriegsende - und nie so naiv und reinen Herzens, daß er sagen konnte: Wir schlagen die Tür zu und alles wird neu - Ich Gott und Schöpfer und jetzt, Jungs: Wir machen Musik.

Für Zimmermann gab es keine Stunde Null. Mit dem Datum vom 7.6. 1945 begann er, Tagebuch zu schreiben oder vielmehr den „Versuch einer Selbstkritik in Tagebuchform“. Das Büchlein trägt den befrachteten Titel Du und Ich / und Ich und die Welt - es liegt aus in der Vitrine, aufgeschlagen auf Seite17: Eine klare Schülerschreibschrift und schreckliche Sätze. Da ist die Rede von den Unsicherheiten des Denkens und dem Chaos der Gefühle. Im Vorwort heißt es „Woran sich orientieren? An dem verworrenen, ungeraden Schlag unserer eigenen flatternden Herzen? Wir sind Versprengte eines verlorenen Unternehmens, so bleibt nichts anderes zu denken übrig (...) Und dabei soll eine neue Zeit aufgebaut werden...“ Er selbst wurde zum Opfer des Aufbaus in der BRD. Ein Außenseiter und Eigenbrötler. Jemand, der die Erinnerungen mitschleppte und nicht einfach abservierte in seiner Musik, und der doch etwas Neues versuchte. Für sich erfand er einen vorläufigen Ausweg aus dem Dilemma, daß die Musik an sich verdächtig und alle ihre Mittel längst verbraucht seien: die schöpferische Formel vom pluralistischen Komponieren. Die Toten sind die Zeitgenossen unserer Enkel - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schießen zusammen in jedem neuen Werk, das seine eigene vieldimensionale Erlebniszeit hat. Dieser Pluralismusbegriff ist bei Zimmermann philosophisch fundiert und kompositionstechnisch gemeint. Es ist aber gewiß kein Zufall, daß der gleiche Begriff für das politische Selbstverständnis der Westrepublik zum Schlüsselwort wurde. Als Worthülse vielleicht, ein bißchen Schall und Rauch.

Zimmermann machte ernst damit in seinen Kompositionen, und saß, ehe er sichs versah, zwischen allen Stühlen, denn die Sitzordnung war auch im Musikleben schnell wieder felsenfestgelegt. Die Darmstädter schalten ihn einen Gebrauchskomponisten, die unverbesserlichen alten Herren nahmen übel, daß er nach Darmstadt fuhr. Und er selbst hat es zum Beispiel Fortner sehr übel genommen, daß der auf einmal so umstandslos seriell komponierte. Während Zimmermann immer versucht hat, mit der Tradition zu leben und irgendwie einen Ausgleich zu finden. Keine Versöhnung! Und das trägt sein Werk bis zum Schluß: Je mehr sich seine Musik vom Purismus entfernt, um so stärker wird diese Erinnerung. Wie in den Soldaten zum Beispiel, wo die Instrumente anfangen zu sprechen. Die einzige Oper, zwanzig Jahre nach Kriegsende uraufgeführt, mit ihrem apokalyptischen Finale: das Publikum eingekreist vom Lärm der Lautsprecher, Schreie, Marschtritte, Kommandos, Gebete, das Kreischen von Bomben und angreifenden Tieffliegern. Keiner kann davonkommen, und danach zum Beispiel noch einen trinken gehen.

Fünf Jahre lang hielt man diese Oper für unaufführbar. Als sie dann endlich aufgeführt wurde in Köln, da war Zimmermann mit einem Schlage ein bekannter Komponist. Freilich kennt man ihn bis heute landläufig nur als Komponisten eben der Soldaten - und die Oper gehört mittlerweile fest ins Repertoire. Dann gibt es da noch das seltsame Phänomen, daß Zimmermann in gewissen Kreisen als Geheimtip gilt, der zugleich öffentlich gehandelt wird. Diese Zimmermann-Fans lieben nur die späten Werke: Stille und Umkehr zum Beispiel und das Requiem für einen jungen Dichter (ein sogenanntes Lingual, in dem unter anderem auch das Grundgesetz zitiert wird) - oder die Ekklesiastische Aktion aus dem Jahre 1970. Fünf Tage nach Abschluß der Partitur beging Zimmermann Selbstmord. Vor ein paar Jahren schrieb dazu in dieser Zeitung einer, der Zimmermann liebt, daß der sich erschossen habe: „das heißt, ich weiß nicht, ob er sich erschossen hat, er hat sich umgebracht, genauso wie sich Majakowsky, Conrad Bayer und Jessenin umgebracht haben, von denen ich auch annehme, daß sie sich erschossen haben“ (taz vom 19.9. '85). Wie kommt es zu dieser morbiden Liebe? Was macht die anhaltende Anziehungskraft des Depressiven aus zu einer Zeit, in der doch positives Denken angesagt ist? Zimmermann, dieser ernste Outlaw, ein Besessener, der sich mit seiner Musik da herumtreibt, wo die Welt ein Loch hat. Und der am Ende selbst hindurchfällt. Was ist daran so faszinierend?

Einmal ist es der Voyeurismus der Überlebenden. Man wird ja sowieso erst richtig berühmt, wenn man sich spektakulär umbringt. Dann gibt es noch diesen Mythos, den der Dirigent Gielen in die Welt gesetzt hat: daß bei Zimmermann wie sonst bei keinem Komponisten Werk und Leben unentrinnbar aufeinander zugelaufen seien. Das stimmt zum Beispiel auch nicht. Aber diese Idee, daß Kunst und Leben eins sind - so hätte man es gerne. Man glaubt dann, man verstehe die Musik besser. Dann wird jedes Stück zu Programm-Musik: sobald man die biographischen Details kennt, versinkt die Musik dahinter. In der Ausstellung liegt fast nichts aus von dem Privatleben. Nur die Noten, das ist nämlich das Komponistenleben. Und übrigens hat Zimmermann Tabletten geschluckt, ganz normal. Jeder kann sich davon überzeugen: Es gibt keine Blutspur auf den Partituren. Sie sind sauber und ordentlich geschrieben - akribische Arbeiten, leicht zu lesen.

Kaum zu glauben, Bernd Alois Zimmermann hat auch witzige Musiken komponiert. Die frühen Werke sind immer noch nicht entdeckt, und die über zweihundert Gelegenheitskompositionen, mit denen er in den langen mageren Jahren seine Brötchen verdienen mußte, passen sowieso nicht ins Bild: Musik für den Schulfunk, für Hörspiele und Filme, Karnevalslieder und Arrangements von dem, was man so Unterhaltungs- oder Volksmusik zu nennen pflegt. Nur zwei Stücke aus der heiteren Zimmermannkiste erfreuten sich gleich allgemeiner Wertschätzung: das ballet blanc und das ballet noir, vor allem letzteres. Eine Musique pour les soupers du Roi Ubu oder vielmehr, eine Musik für die Berliner Akademie der Künste, die sich wenige Wochen nach dem Erfolg der Soldaten dazu aufgerafft hatte, Zimmermann als Mitglied zu berufen. Er bedankte sich mit einer Kom-Position, die vom ersten bis zum letzten Ton nur aus Zitaten zusammengesetzt ist, mit jeweils aktualisierten Zwischentexten, die ein Mann wie Wolfgang Neuss sprechen sollte - so wünschte es sich Zimmermann: ein „infernalisches MERZbild unserer kulturellen und politischen Gegenwart“. Zum Entree läßt er die illustren Vorsitzenden der Akademie auftreten, Scharoun, Blacher, Fortner und so weiter. Es folgen in bunter Reihe die hervorragendsten lebenden und toten Komponistenkollegen. Nicht nur, daß deren Erkennungsmelodien in Fetzen gerissen sind, sie werden so gnadenlos übereinanderkopiert, daß sie ihr Inneres nach außen kehren und wie falsche Fünfziger klingen. Eine grandiose Musikzermanschmaschine, in der die gesamte Musikgeschichte über die Klinge springt. Trotzem hört es sich herrlich an. Abschließend tönt, begleitet von Wagners Walkürenritt und dem Berliozschen Gang zum Hochgericht, der Akkord aus Stockhausens KlavierstückIX, und zwar 631mal wiederholt - statt nur 280mal wie im Original.

Außerdem zitiert Zimmermann auch sich selbst. Diese Distanz zum eigenen Schaffen ist selten in der neuen Musik. Handelt es sich dabei doch durchweg um ein ernstes Geschäft, bei dem höchstens einmal hämisch über andere gelacht wird - so gut wie nie lacht ein zeitgenössischer Komponist über sich selbst. Was nicht heißen soll, daß man nicht auch das Lachen ernsthaft betreiben sollte. Ganz im Gegenteil: Gerade die sogenannte leichte Musik wurde von Zimmermann nicht auf die leichte Schulter genommen. In den drei kleinen Konzerten, die die Ausstellungseröffnung Ende September akkompagnierten, gab es eine Reihe solcher Raritäten zu hören, zum Beispiel die Rheinischen Kirmestänze oder den Söbensprung - ein sogenanntes „norddeutsches Volkstanzpotpourri“, arrangiert 1951 für die Volksmusikvereinigung des WDR. Dieses Stück, sagt Ebbeke, wäre heute auf dem Musikantenstadl völlig fehl am Platze. Schon damals haben die Musiker geschimpft, die so etwas spielen mußten: das lag ihnen nicht so in der Hand oder vielmehr: auf der Hand. Der Vorwurf war dann etwa, Zimmermann habe falsch instrumentiert. Aber das ist es nicht. Er hat nur die Gattung Blasmusik ein kleines bißchen weiter getrieben als üblich.

Im Sinne einer Parodie? Nein, auf keinen Fall. Zimmermann hat es mit der Blasmusik gerade ernst gemeint. Man muß so etwas genau nehmen. Denn so kriegt es eine angenehme Leichtigkeit, und das Dumpfblödelige, was solche Musik ja oft haben kann, das ist ihr ausgetrieben. Als ein Gegenbeispiel: In der ernsten Musik, im Requiem zum Beispiel oder in den Soldaten, da darf auch schon mal eine ganze Schlagzeuggruppe wegfallen, das Stück überlebt das. Aber gehen beim Söbensprung die Bläser nicht ganz genau zusammen, dann ist das Stück um seine Substanz gebracht. Wenn man solche leichten Sachen ernst nimmt, erst dann fangen sie an zu schillern. Sobald da etwas klappert, ist es nicht mehr witzig. Höchstens eben - ein schlechter Witz.

Aber selbst die guten Witze sind in der E-Musik, wie gesagt, nicht besonders beliebt. Als zum Beispiel die Ballettmusik Alagoana, aus der ein Stück schon 1955 vorgestellt worden war auf der Stuttgarter „Woche der leichten Musik“, drei Jahre darauf im heiligen Köln aufgeführt wurde (heilig war Köln damals vor allem als Hochburg der neuen Musik) - schrie die Kritik einstimmig Zeter und Mordio. Und Zimmermann setzte sich hin und schrieb Briefe an die Kritiker, in denen er widerrief: erklärte das Stück kurzerhand zu einer läßlichen Jugendsünde. Es war nicht das einzige Mal, daß er sein Licht unter den Scheffel stellen mußte - und auch nicht das einzige Gerücht, das er in die Welt setzte. Seit er zum Beispiel dem 'Zeit'-Kritiker Heinz Josef Herbort in einem Interview erzählt hatte, er habe zwei Fassungen der Soldaten geschrieben, suchen die Musikologen händeringend nach den Spuren der ersten. Sie gilt als „verschollen“. Die Skizzen aus dem Nachlaß freilich beweisen zweifelsfrei: es hat nie eine erste Fassung gegeben. Andererseits gibt es besagtes Interview auf Band.

Wer hat da recht, Zimmermann oder Zimmermann? Beide. Natürlich hat er der 'Zeit‘ einen Bären aufgebunden, so etwas hat er öfters gemacht. Es gibt keine erste Fassung. Andererseits: man erinnert sich ja manchmal selbst an die merkwürdigsten Dinge, die nie stattgefunden haben. Und trotzdem sind sie passiert. Wahrscheinlich gab es eine imaginäre erste Fassung, die Gedanken im Kopf. Und überhaupt: Es gibt nichts Unzuverlässigeres als Äußerungen von Komponisten über sich selbst. Noch ein Grund mehr, auf die Noten zu hören und nicht auf die Worte.

Genug der Worte. Und besten Dank für das Gespräch, Herr Dr. Ebbeke. Zimmermanns Musik ist noch zu besichtigen bis zum 10.Dezember, von Donnerstag bis Montag, 14 bis 18Uhr, in der Archiv-Dependance der Akademie der Künste, Spandauer Damm19. Das ist schräg gegenüber dem Charlottenburger Schloß. Der Eintritt ist frei - Partituren sind entleihbar, und der Katalog kostet 28Mark.

Elisabeth Eleonore Bauer