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ENTVITALISIERT

■ Ballettgastspiel aus Leningrad in der Deutschen Oper

„Ein unbeschreiblicher Tumult machte es den Tänzern unmöglich, das Orchester oder Nijinskis beschwörende Rufe aus der Kulisse zu hören; im Zuschauerraum prügelten sich Fürsprecher und Opponenten.“ Die Saalschlacht bei der Uraufführung von Strawinskys Le sacre du printemps in Paris 1913 hat diesem Ballett einen provokanten Mythos verliehen, der bis heute als Publikumsmagnet und Herausforderung für moderne Choreographen wirksam ist.

Nicht die geringste Aussicht auf eine Saalschlacht bestand bei dem Gastspiel des Leningrader Moly-Theater -Staatsballetts, das sich mit Strawinskys Sacre und Petruschka vorstellte. Es sei denn, die Damen und Herren Zuschauer im Rentenalter hätten aufgemuckt, daß bei solchen Choreographien die vom Arzt verordnete gelegentliche Anregung des Kreislaufs nie und nimmer zu bewerkstelligen sei.

„So ein Quatsch“, klang es vernehmlich aus der ersten Reihe, als Petruschka, der totgeglaubte Hampelmann, am Ende wieder aufersteht. Es fragte der zur Pause erwachte alte Herr, welches Stück er denn da gerade verschlafen habe. Es beklagte die grauhaarige Dame, daß sie vom „Frühlingsopfer“ nun doch mehr Wildheit und Ekstase erwartet hätte.

Eigentlich ein Jammer, eigentlich ein Skandal, soviel tänzerische Kraft und Fähigkeit zu verpulvern, sinnlos, das heißt ohne unsere Sinne zu erregen. (Leisten kann sich dies Verheizen von Tänzern eigentlich nur, wer über ein hier schlecht vorstellbares Reservoir von Ballettsüchtigen verfügt.) Endlos müssen da die Nähnadeln fleißiger Kostümbildnerinnen durch Fluten von Stoffen gehetzt worden sein, um eine so faltenreiche Ummantelung und Verstellung der Körper der Tänzer zu erreichen. Auf Folklore war ich gefaßt, auf Kitsch und altbackene Kulissen, auf traditionsreiche Tänze, doch nicht auf eine so dilettantische Inszenierung, die sich um ihre eigenen Effekte brachte. Großväterchen mit langem Bart und Patriarch, betrunkener Soldat und junge Bauernmaid, stolzbrüstige Bäuerinnen und kraftstrotzende Kerle, Musikanten und Tanzbären..., nichts wurde ausgelassen, um den Jahrmarkt des Petruschka möglichst vollzustellen. Pantomimisches Gefuchtel der riesigen Truppe im Hintergrund verhinderte jegliche Konzentration auf die Tänze im Vorder -grund. Kein Bild, kein Moment blieb dem Gedächtnis erhalten. Szenenwechsel verhackstückten die Geschichte, und Umbaupausen rissen die Musik auseinander. Nichts war von der Grausamkeit der Ermordung des Kaspars auf dem Jahrmarkt zu spüren, nichts von der Unheimlichkeit der Figur Petruschkas, der seine Glieder wie eine mechanische Marionette schleudert und am Ende doch als Mensch seine Zerstörung als Puppe überlebt. Die radikale Parabel vom exhibitionistischen Opfertod des Kaspar-Künstlers für das geifernde Publikum blieb auf der Strecke. Keine Verausgabung erlaubt.

Doch wenigstens beim Sacre du printemps wurde das Ornament der Masse gelegentlich expressionistisch gesprengt. Strawinsky wollte mit Sacre ins heidnische Rußland versetzen; in einem archaischen Kult wird dem Frühling ein junges Mädchen geopfert, das sich zu Tode tanzt. Bei den Leningradern wird der Fruchtbarkeitskult durch eine Abschleppszene illustriert, in der sich die jungen Männer die Frauen über die Schulter werfen oder unter die Achsel klemmen und hinter der Bühne verschwinden. Endlich wurden die Tänzer des Ensembles losgelassen, durften rasen, rennen, springen, wirbeln, fliegen, während die Maiden doch eher auf Spitzen und in zierlichen Pirouetten grüppchenweise durch die Landschaft zogen. Das jungfräuliche Opfer zierte sich kälbisch und tanzte verklemmt; allein die Schamanin zeigte sich vital, krümmte sich animalisch, war Jägerin und Gejagte. Trotz aller choreographischen Einfallslosigkeit zündete Strawinkys „Atombombe der Musik“ (Arthur Honegger) immer noch.

Katrin Bettina Müller

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