Neues aus der Friedrichstrasse

■ "Herzlich willkommen" - eine gesamtdeutsche Familientragödie in 476 Folgen, vom Leben abgeschrieben von Lutz Ehrlich und Suse Riedel. 2. Teil

So hatte sich Oma Schultze die Wiedervereinigung dann doch nicht vorgestellt: Nach der ersten durchwachten Nacht mit Onkel Herbert und Tante Helga aus dem Osten im Schlafzimmer kriegte sie zum Frühstück die Nachricht serviert, ob es denn nicht doch besser wäre, sie ginge aus Platzgründen erstmal in eines dieser „hübschen Damenstifte“, wie sich Schwiegertochter Uschi beherzt ausdrückte. Aber Oma wußte, was gemeint war: die Abschiebung ins Altersheim. Uschi Schultze (41): „Also, uns ist das wirklich nicht leichtgefallen, aber anders rechnet sich das einfach nicht. Weil, das ganze Geld, was die liebe Helga und der liebe Herbert als neue Mitbürger jetzt nachgeschmissen kriegen, dagegen ist Omas Rente überhaupt nix, wenn sie wissen, was ich meine...“

Während also Herbert und Helga auf dem abgegessenen Frühstückstisch noch die neuen Scheine von der Friedlandhilfe zählten und sich auf ihren ersten Einkauf beim Woolworth vorbereiteten, tat es neben dem Stuhl, auf dem eben noch Oma verbittert gesessen hatte, einen dumpfen Knall... Helga Schultze (ehemals Ost) erinnerte sich sofort an ihr DDR-Organisationstalent: „Ich hab‘ dann gleich mal bei Oma im Kleiderschrank nachgeguckt. Das eine oder andere Teil hätte man ja vielleicht noch gebrauchen können. Ach nee, das ist aber auch tragisch, das mit der Oma. Also, was da hing, dafür hätten wir echt nicht rübermachen müssen...“

Die Platzverhältnisse in der doppelt belegten Friedrichstraße-West entwickelten sich also durchaus positiver als absehbar war. Nur Omas Bett war für Herbert und Helga auf die Dauer doch etwas schmal. Rasche Abhilfe versprach da ein Besuch auf dem Polenmarkt, wo sie für ihr Begrüßungsgeld ein besonders schickes Teil erstanden: „Mensch, ham wir ein Glück gehabt, diese dunkelbraune Cordpolsterliege mit eingebautem Radiowecker, das hat doch Niveau und hat doch kaum was gekostet, im Osten mußte auf sowas zehn Jahre warten!“

Dramatischer gestaltete sich dagegen schon bald die Situation im Kinderzimmer: Ostsäugling Rita verweigerte standhaft die nach sorgfältigsten ernährungstechnischen Gesichtspunkten zusammengestellte West-Babykost. Teenager Meike hockte indessen dumpf brütend vor Ingos Computer und versuchte, ihre mitgebrachten Solidaritätsgroschen in den Diskettenschlitz zu katapultieren. „Ist doch echt ost“ wurde angesichts dieses Elends Ingos neuer Standardspruch. „Ich hab‘ ja immer gedacht, meine Alten wären bescheuert genug, aber wenn ich jetzt zum Abi den alten Stink-Trabbi von Onkel Herbert und Tante Helga kriegen soll und nicht den japanischen Kleinwagen, dann reicht's mir wirklich. Ich zieh‘ aus!“

Daß sich dieser Auszug nicht so einfach anließ, mußte Ingo Schultze (17) bald schmerzlich erlernen. Denn Wohnungen gab's ja nicht mal mehr für Tante Helga und Onkel Herbert, geschweige denn für ihn.

Unterdessen war Onkel Herbert frohgemut zum Arbeitsamt gezogen, um sich da als Straßenbahnschaffner zu bewerben. Noch besseren Mutes kehrte er zurück in die gesamtdeutsche Schultze-Küche und verkündete froh, daß doch dieses ganze Gerede, hier gebe es keine Arbeitsplätze, bloß SED -Propaganda wäre: „Menschmenschmensch, Straßenbahnen ham die ja seit Jahrzehnten nicht mehr hier. Aber brauchen tun se mich trotzdem. Menschmenschmensch, weißte, was die aus mir machen? Busspurbetreuer. Da war'n zwar auch 'ne Reihe Westler, aber die wollten das alle nicht machen. Und der Sachbearbeiter, feiner Mensch übrigens, hat zwar gesagt, daß es da noch keine Tarife gibt, aber man ist ja schon froh, wenn man nicht auf der Straße sitzt. Menschmenschmensch...“

Was sollte Onkel Herbert auch anderes machen, so mir nix, dir nix übergesiedelt und ganz ohne Papiere? Aber das sollte das Problem nicht mehr lange sein. Uschi Schultze: „Da krieg‘ ich doch mit, wie die Helga ganz schamlos mit Jena telefoniert. Da wohnt nämlich unser Tante Klärchen. Kriegerwitwe und auch bei der Reichsbahn gewesen. Und da hör‘ ich doch, wie Helga sagt, sie soll die Papiere rüberbringen, unter der Strumpfhose über die Friedrichstraße, wenn sie wissen, was ich meine. Ich glaub‘, mich trifft der Schlag...“

Uschi Schultze wollte das Herz schier stehenbleiben, denn nicht nur Tante Klärchen drohte, sondern auch ihre Schwägerin Helga tauchte wieder auf, nunmehr mit einem unbekannten jungen Mann im Schlepptau.

„Juhu, das ist übrigens Wilfried, der studiert Biochemie und hat kein Zimmer, und ich dachte, die 2.000 Mark Prämie vom Studentenwerk könnten wir doch ganz gut gebrauchen...“

Fortsetzung folgt