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Neues aus der Friedrichstrasse

■ "Herzlich willkommen" - eine gesamtdeutsche Familientragödie in 476 Folgen, vom Leben abgeschrieben von Lutz Ehrlich und Suse Riedel. 3. Teil

Alt wie ein Baum wollte Tante Klärchen werden, genau wie der Dichter es beschreibt. Aber klug wie sie war, erinnerte sie sich, daß der Dichter nicht gesagt hatte, daß das unbedingt in Jena sein müßte. Und der Plan mit den Papieren von Herbert und Helga war ja klar, dachte Helga in ihrem West -Asyl in der Friedrichstraße, bis der dramatische Anruf kam: „Hach, du bist's, Tante Klärchen. Bist du schon drüben? Was, noch nicht? Was ist denn bloß? Ach, sag bloß: Unsere Zweiraumwohnung ist voll mit Russen. Die haben ja kein Schamgefühl. Was? ... Touristen? ... Zum 40. Geburtstag. Woher? ...aus Berg-Karabach? Die schrauben die Wasserhähne ab: Das halte ich nicht aus. Und unsere Papiere? - Was? ...den Fuß verstaucht?“ Tante Klärchen, so erfuhr Helga, hatte nichts unversucht gelassen. Die Züge seien ja in letzter Zeit rappelvoll, hatte sie gesagt, und halten täten sie auch nicht mehr. Tapfer hatte die 62jährige versucht, den letzten freien Zentimeter auf dem Dresdener Bahnhof zu erobern, war dann durch die Büsche gebrochen, um heimlich aufzuspringen. Das war mißlungen, und sie mußte die Taktik wechseln. Schnell kaufte sie im HOCentral noch ein paar Winkelelemente für die Geburtstagsfeierlichkeiten der Republik, die gab's noch reichlich. Derweil verfolgen bei Schultzes im Wohnzimmer Uschi, Helga, Biochemie-Student Wilfried und Sohn Ingo den großen Zapfenstreich-Ost im Fernsehen-West. „Dieses Schauerstück gönnt man ja keinem“, kommentiert Uschi Schultze, „guck mal, da ist doch der Egon Krenz. Ob der es wohl auch noch an der Galle kriegt? Schön, so in Farbe. Und so viele Menschen. Sind ja doch ein paar da. Besser isses, sie sind da als hier, wenn ihr wißt, was ich meine.“ Nämlich die inzwischen atemberaubende Enge bei Schultes vorm Fernseher und der ewige Streit um die Fernbedienung, was Onkel Herberts Lieblingsspielzeug geworden war. Ganz gelb wurde er immer, wenn er aus Versehen ein Ost-Programm drückte. Und während der 100. Sondersendung zur Deutschlandfrage platzte dann Ingo mit der Nachricht raus: „Übrigens, ich hau ab. Ich hab da auf eine Anzeige in der Lokalprärie geantwortet, wegen so einer WeGe. Da standen zwar -zig Leute, aber Wilfried und mich haben sie genommen: Wilfried wegen den 2.000 Mark Prämie und mich wegen dem Trabbi. Die Öko-Fraktion wollte den ja erst verschrotten, aber die sind auf dem Plenum überstimmt worden. Die anderen finden das total chic, damit beim Strada vorzufahren. Und um den Dreck brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen, Mutti. 'Ist doch geil‘, hat einer von denen gesagt, 'endlich kriegt man für 10 Mark wieder 'ne Putzfrau, die deutsch spricht.'“

Ingo hinterließ bei seinem Auszug den abgelegten Ghettoblaster, der der bis dahin apathischen Meike zu neuer Energie verhalf: Stunde um Stunde suchte sie systematisch die Kanäle ab, auf denen Freikarten für Aussiedler verlost wurden. Von einer dieser Veranstaltungen, einer Benefiz -Modenschau der Alliierten in Zusammenarbeit mit der Arbeiterwohlfahrt, kehrte Meike nicht zurück. Uschi Schultze wunderte sich inzwischen über gar nichts mehr: „Und wenn die unter die Räder kommt, schon gar lange nicht mehr. Kümmert sich ja keiner mehr um das Mädchen. Herbert hängt den ganzen Tag auf seiner Busspur in Wittenau und abends noch auf der Fortbildung: So eine Schnapsidee - Kontrolleur und nur wegen der Uniform. Und die Helga putzt sich noch die Finger wund. Die ist sich ja nicht mal zu schade, bei unserem Ingo in der WeGe den Dreck wegzumachen.“ Es kam, wie es kommen mußte, dann der Anruf von Helga: „Helga“, versuchte Uschi es friedlich, „ich muß dir was sagen: Die Meike ... was, du weißt schon ... im Urban, mit was? Mit 'ner Hasch -Vergiftung?...“

Fortsetzung folgt

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