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SED muß Kurs ändern

Michael Arnold, ein Leipziger Sprecher des Neuen Forums  ■ I N T E R V I E W

taz: Vor zwei Wochen wurdest du wegen Teilnahme an der Demonstration vorübergehend inhaftiert. Am Dienstag bist du als Vertreter des Neuen Forums bei der SED-Bezirksleitung gewesen. Was ist das für ein Gefühl?

Michael Arnold: Nicht das schlechteste! Damit haben wir nicht gerechnet. Aber die Gespräche haben noch nicht begonnen. Ich wollte mit Herrn Wözel reden, der als Bezirkssekretär öffentlich den Meinungsaustausch befürwortet hat. Er sei auf einer Versammlung, sagte man mir. Man werde mir einen Brief zustellen. Ob das eine offizielle Einladung wird, weiß ich nicht. Danach haben wir ein offizielles Schreiben vom Neuen Forum an jeden der sechs Unterzeichner des Aufrufs verfaßt und um ein Gespräch noch in dieser Woche gebeten.

Wie lauten eure dringendsten Wünsche und Forderungen?

Wir wollen sehen, wie die Herren ihren Dialogwunsch in die Praxis umsetzen. Von unserer Seite kommt die Forderung nach Zulassung des Neuen Forums und nach Räumlichkeiten für uns. Dann geht es um die Freilassung und Rehabilitierung der Inhaftierten sowie die Aufhebung der Geldstrafen. Über weitere Forderungen müssen wir intern beraten. Ich persönlich glaube, daß man über den Zugang zu den Medien hier reden muß.

Leipzig bricht jeden Montag Demonstrationsrekorde.

Ohne Demonstrationen wäre es nicht zum Meinungswandel in der SED gekommen, wie er sich jetzt andeutet. Mehr ist das ja noch nicht. Ich bin überzeugt, daß mit neuen Demonstrationen zu rechnen ist. Ganz praktisch kann es den Herren bis zum nächsten Montag ja nicht gelingen, öffentlich klarzumachen, daß die Partei ihren Kurs wirklich ändert.

Gegenüber der sächsischen Provinz hinkt die Protestbewegung in der Hauptstadt hinterher. Das gleiche Gefälle auch bei den SED- und Staatsoberen.

Das liegt vor allem daran, daß in der Versorgung mit Lebensmitteln und Infrastruktur jahrzehntelang alles nach Berlin verschoben worden ist. Wir haben hier ein viel größeres Wohnungsproblem zum Beispiel. Es fehlen viel mehr, und die Wohnungen, die da sind, sind oft schlecht. Als letzte Woche die Gerüchte über einen Panzereinsatz kursierten, sagte mir jemand: „Das ist unmöglich. Wenn Panzer in Leipzig einfahren, dann sacken sie erst mal auf der Straße ein, und danach bricht halb Leipzig wegen Baufälligkeit zusammen.“ Und was die öffentliche Diskussion angeht, lief die in der Hauptstadt immer besser als hier. Besonders in Dresden sind die Leute ja faktisch abgeschnitten von der Welt. Das kommt jetzt alles hoch. Der SED sind diese Probleme nicht unbekannt, und es gab schon immer Unterschiede bei den Bezirken. Öffentlich sichtbar waren sie kaum.

Interview: peb

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