: Neues aus der Friedrichstrasse
■ "Herzlich willkommen" - eine gesamtdeutsche Familientragödie in 476 Folgen, vom Leben abgeschrieben von Lutz Ehrlich und Suse Riedel, 4. Teil
Irgendwann mußte Oma Schultze, der alte Dragoner, ja mal unter die Erde. Die Ost-Verwandtschaft kam wegen fehlender Valuta ohne Kranzspenden - wenn überhaupt: Das ewige Rein und Raus war ja nicht mehr, und die 150prozentigen mußten sowieso dableiben, damit dem Erich die Galle nicht wieder überläuft. Tante Klärchen war fußläufig auch verhindert und befand sich gerade auf einer Tournee durch die Kreiskrankenhäuser der Republik: Wo sie ankam, war der Arzt gerade weg.
Von wegen trauter Familienfeier: Beim anschließenden Leichenschmaus kam es zum Eklat: „Der Erich hätte ja auch nicht direkt vorm Sarg mit der ollen Uniform auftauchen müssen“, meinte Uschi Schultze, „und dann auch noch denen die neuesten Witze über sie erzählen, von wegen Erich seiner Schwester im Saarland. Und die Helga hat noch einen draufgesetzt: Die wollten ihnen schon die besten Stücke aus ihrer neuen Plastiktütensammlung mitgeben, damit sie was haben, wo sie reinkotzen könnten. Oma hat im Grab rotiert.“
Die versteinerten Gesichter der Verwandtschaft aus Duisburg führte Uschi allerdings nicht nur auf Omas Schocktod zurück. Die ahnten schon, was ihnen drohte, denn Helga und Herbert zeigten sich von ihrer reizendsten Seite. Wie es denn im Ruhrgebiet so wäre, und das würden sie doch gerne selber mal in Augenschein nehmen.
Ingo wäre fast zu spät zum Trauerzug gekommen, aber nicht, weil der Trabbi verreckt war. Die WeGe hatte ihm die alten, verfärbten Bettücher aufgedrückt, die er zu seinem neuen Brieffreund vom „Neuen Forum“ mit nach drüben nehmen sollte. Mitsamt der Laken war er schon in der Invalidenstraße hängengeblieben.
A propos Invalide: Meike hatte natürlich keine Haschischvergiftung, wie Helga befürchtet hatte, sondern sie war mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten und einem VW Polo des nachts rund um einen Laternenpfahl geendet: Was das Kind anging, hatte Helga Besserung geschworen: „Nee, das hat doch Niveau, dieses Urban, und unsere Meike kriegt jeden Tag eine Extrabanane. Hab‘ ich der Stationsschwester gleich gesagt: Geben Sie der nicht zuviel, die ist das nicht gewohnt. Und dann liegt sie mit sechs Türkinnen auf einem Zimmer, ein bißchen Schonung hätte die Meike doch verdient gehabt. Und jetzt stammelt sie immer etwas von multi -kulturell: Wenn das mal nicht schon wieder was mit Drogen zu tun hat.“
Uschi trat daraufhin vorsorglich der Selbsthilfegruppe „Eltern gegen Drogen“ am Südstern bei. Mit prall gefülltem sozialen Gewissen kehrte sie in die Wohnung Friedrichstraße zurück. Niemand wartete auf sie, nur die bezirklichen Avon und Tupperware-Verteter. Helga hatte sie tags zuvor bestellt, bloß fehlte von ihr jede Spur. Auch Ingo war seit Omas Beerdigung nicht mehr gesehen worden. Besonderes Vertrauen hatte Helga in diese WeGe ja noch nie gehabt, trotzdem griff sie zum Telefonhörer. Und als sich am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme meldete, wollte ihr mal wieder das Herz stehenbleiben: Es war ihre Schwägerin Helga: „Was ich hier mache? Ich sitze gerade so gemütlich mit Wilfried, und wir reden über Biochemie. Das hat mich schon in meinem alten Kombinat 'Ernst Thälmann‘ immer brennend interessiert. Der Wilfried hat wenigstens Niveau. Schönen Gruß auch an Herbert, ich bin übrigens durchgebrannt...“ Fortsetzung folg
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