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Der nationale Taumel fehlt

Turn-WM in Stuttgart / Keine großen bundesdeutschen Hoffnungen beim „gesellschaftlichen Großereignis“  ■  Aus Stuttgart Thomas Schreyer

Wenn sich heute abend in der Stuttgarter Schleyer-Halle gegen 19.30 Uhr der Vorhang hebt, werden die 25. Kunstturn -Weltmeisterschaften der Rekorde und Superlative eröffnet. 48 Verbände mit rund 600 Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus allen fünf Kontinenten tummeln sich bis zum 22. Oktober in der Schwabenmetropole. Die Aktiven schwingen sich 73 Stunden lang auf, über und um die Geräte; erstmals werden die Finals auf sechs Tage ausgedehnt. Die erste Entscheidung (Mannschaftsturnen der Männer) fällt am kommenden Dienstag.

Den Veranstaltern geht es keineswegs nur um den Spitzensport. Die 25. Turn-WM mit einem ungewöhnlich umfangreichen Rahmenprogramm (Folklore, Jugendlager, Vorführungen) sollen zu einem „gesellschaftlichen Großereignis“ werden und im „Mutterland des Turnens“ diese Sportart „wieder ins Bewußtsein zurückbringen“.

Das Organisationskomitee nannte als Ziel, einen möglichst großen Freundeskreis für das Turnen zu gewinnen. Aus diesem Grund habe man die Eintrittspreise „nicht zu billig“ gemacht, erklärte OK-Chef Robert Baur, „damit die Leute, die eine Karte haben, auch wirklich kommen“. Zwischen 15 und 100 Mark (zuzüglich 2,50 Mark Bearbeitungsgebühren) liegen die Preise, und die Karten sind (außer für die Finals) noch nicht alle verkauft. Aus gleichem Grunde gebe es auch keine Dauerkarten, da die Besitzer solcher Tickets erfahrungsgemäß nicht jeden Tag in der Halle säßen.

Ein sicherlich gelingendes Vorhaben, die Attraktivität des Kunstturnens zu steigern, ist die Neuerung, daß die Turner und Turnerinnen versetzt an die Geräte gehen; das heißt, es werden nie mehrere Aktive gleichzeitig turnen. Dadurch wird die „Ausbeute“ für die Fernsehanstalten erstmals optimal.

Ein großes Plus für die WM sei das nicht-nationale Verhalten des schwäbischen Publikums, sagt Rainer Vögele, der Geschäftsführer der Stuttgarter Messegesellschaft, die mit der Vermarktung der Veranstaltung beauftragt ist. „Hier wird nicht nur für die Deutschen applaudiert, sondern für alle.“ Beim Kunstturnen sei es sowieso egal, wer an den Geräten sei, da es „einfach eine schöne Sportart ist“.

Trotzdem ist es Faktum, daß das Interesse am Kunstturnen in den letzten Jahren gesunken ist, obwohl der Deutsche Turnerbund mit mittlerweile über vier Millionen Mitgliedern der zweitstärkste Verband hinter den Fußballern ist. Aber den bundesdeutschen Konsumenten werden nur noch die Sportarten schmackhaft gemacht, in denen Athleten „für Deutschland“ Medaillen holen, wo sie in einen nationalen Taumel verfallen können, der die chauvinistische Stimmung im Lande weiter verstärkt.

Dazu eignet sich das Turnen nicht - nicht nur, weil die bundesdeutschen Turner und Turnerinnen mit ihren Leistungen weit abgesackt sind. Auch international muß man sich ständig an neue, kurzlebige Namen gewöhnen. Ein Star-Kult ist schwierig. 1987 wurde die Außenseiterin Aurelia Dobre aus Rumänien überraschend Weltmeisterin. Die 17jährige ist in Stuttgart zwar noch dabei, hat aber nach Verletzungen keine Titelchancen mehr.

Dimitri Belozerchev (23), der amtierende Weltmeister, wäre schon das siebte Jahr im Geschäft, doch der „Alkoholiker“ aus Moskau wurde nach einem „Biergelage“ endgültig aus der Mannschaft verbannt. Olympiasieger Artemov und Igor Korobschinski haben jetzt die größten Aussichten, den Einzeltitel zu holen. Bei den Frauen peilen Europameisterin Boginskaya und „Neuling“ Olessia Doudnik, möglicherweise auch noch die - schon etwas „verbrauchte“ - Rumänin Silivas die Goldmedaille an.

Namen, die in Insiderkreisen Hochachtung und Bewunderung bewirken, bei „normalen“ BeobachterInnen aber längst nicht den Glanz einer Vera Caslavska oder Olga Korbut heraufbeschwören.

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