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Ein existenzialistischer Charmeur

 ■  Liliane Siegels „Mein Leben mit Sartre“

Für Liliane Siegel war die Jugend die Hölle, für diese sale petite youpine und spätere Verkäuferin einer pariser Luxusboutique wurde das Schweigen zu einer zweiten Haut; die erste war das Leid.

Antisemitische Quälereien, die Verfolgung des Vaters durch die Nazis und die durch Verlustangst strukturierten Liebesbeziehungen glichen einer ihre Existenz deformierenden ewigen Tätowierung. Als die Mutter starb, mußte die erwachsene Frau in den Keller ziehen; ihr Sohn wurde bevorzugt.

Unter suiziden Depressionen begann sie zu lesen, sie las Romane von Paul Nizan (1905-40), las das Vorwort Jean Paul Sartres, las den Satz: „Versucht nicht, eurem Unheil zu entweichen, findet seine Ursachen und zerschlagt sie...“, der ihr Leben radikal verändern sollte. Sie wurde, nach einem Brief an den Philosophen Sartre, in dem sie ihn um Hilfe bat, die fünfte Frau in seinem existenzialistischen Harem. Neben Castor (Simone de Beauvoir), neben Wanda und Michelle (Ex-Gattin des Poeten Boris Vian), neben der Adoptivtochter Arlette, spielte sie zunächst eine verheimlichte Freundin, wurde aber zusehends offiziell in den Sartre-Clan aufgenommen.

Nach der brillanten Biographie von Annie Cohn-Solal zeigt Mein Leben mit Sartre, den radikalen Philosophen mit den Augen einer liebenden Frau. Liliane Siegels intimer Blick, ist der Blick aus einer neuen Perspektive, denn Leben und Werk Sartres wurden stets von Philosophen und Literaten interpretiert oder, wenn es um den Menschen ging, von seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir, deren Blick oft sehr subjektiv ausfiel, wie etwa bei dessen Liebesaffäre mit Arlette, die für Sartre zu einer der wichtigsten Beziehungen im Alter wurde. Arlette, die spätere Universalerbin aller seiner Schriften, wurde in den Memoiren der Beauvoir völlig ignoriert.

Abandonnique (unter Verlustangst leidend), diese sartresche Wortschöpfung, bezeichnete im Sinn freudscher Theorien die Lebensproblematik Liliane Siegels. Sartre wird diese Frau freundlich, aber mit rigider Strenge zu einer emanzipierten Heilung führen. Vielleicht half gerade gerade die Verdoppelung ihrer Lebensängste durch das Leben mit ihm. Der sonst um Authenzität bemühte Sartre verheimlichte sie (sie mußte lügen und lügen lassen), ließ sie die gesamte Skala von Ängsten durchlaufen, bis sie selbstsicher neue Freundschaften fand (u.a. zu Truffaut) und zur politischen Mitkämpferin Sartres und couragierten Mitdirektorin des linksradikalen Blattes „La cause du peuple“ wurde.

Viele unbekannte Details (nicht nur über Sartre, sondern auch über zahlreiche prominente Künstler, wie z.B. Marguerite Duras; der ihr Auto mehr am Herzen lag als der Kampf für die Pressefreiheit), bisher nie veröffentlichte Fotos bereichern das Buch, das sich wie eine abenteuerliche Lehrgeschichte liest, den schonungslos autobiographischen Blick freigibt auf die Zerrissenheit einer Frau und den Blick kritisch erweitert auf Sartres liebessüchtiges Ego, das oft gerade junge Jüdinnen zu bevorzugen schien, deren Intellekt und Charme ihn faszinierten. Seine Liebe scheint oftmals aus einem Schuldgefühl zu resultieren, dem Schuldgefühl eines inaktiven Vorkriegsfranzosen, der später der Philosoph der Freiheit werden sollte, einer menschlichen Freiheit und Authenzität, die er radikal und oftmals rücksichtslos auslebte. Liliane Siegels Buch ist ein Buch über die Liebe einer Frau und ein wichtiges Dokument zur Psyche Sartres, es zeigt und enthüllt uns einen bisher Unbekannten.

Frank Mühlich

Liliane Siegel, Mein Leben mit Sartre, Claassen Verlag, 192 Seiten, 29,80 Mark.

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