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Generationswechsel

■ Ein Blick auf die literarische Landschaft Frankreichs 1989

Manfred Flügge

Wer ein französischer Schriftsteller werden möchte, sollte sein fertiges Manuskript am besten nicht per Post schicken, denn dieser Weg verspricht kaum Erfolg. Von den etwa 4.000 Einsendungen, die den französischen Verlegern pro Jahr auf dem Postweg zugehen, gelangen vier oder fünf bis zur Druckreife. Nur bestellte oder empfohlene Manuskripte haben eine Chance. Dabei ist die Zahl der literarischen Debütanten auf dem Romansektor rein zahlenmäßig erstaunlich hoch: Unter den über 200 Neuerscheinungen der letzten literarischen Saison waren 55 Texte von Neulingen. Die Verleger geben durchaus neuen Autoren eine Chance - sie lassen sie bei Mißerfolg aber auch ebenso schnell fallen. Die Innovationsspirale hat sich beschleunigt, die „Lebensdauer“ eines Buches, das heißt seine Präsenz in den Buchläden, wird so allerdings erheblich verkürzt.

Und dennoch hat in der letzten literarischen Saison eine Autorin großes Glück gehabt: Nicht nur, daß ihr per Post eingesandter Text veröffentlicht wurde, sie erhielt auch den Preis für den besten Romanerstling und viele lobende Kritiken: nämlich Nadine Diamant mit ihrem Roman Desordres (Flammarion). Mit Recht. In der Nachfolge von Christiane Rochefort schrieb sie einen Roman über eine kinderreiche Familie am Rande der Gesellschaft und der Normalität; Liebschaften, Schwangerschaften und kleine Morde spielen hinein sowie eine menschliche Flora und Fauna der sonderlichsten Art, Sozialrealismus und Krimi-Atmosphäre, Metaphysik des Lebens und des Zusammenlebens, witzige, poetische, grausame und widerwärtige Passagen alternieren in einem mit scheinbar leichter Hand geschriebenen flüssigen Stück Prosa, in dem es vom Sublimen zur Müllhalde immer nur ein Schritt ist.

In Zahlen ausgedrückt, nimmt sich ihr Erfolg mit nicht ganz 10.000 Exemplaren zwar bescheiden aus, aber für einen Anfang ist das dennoch beachtlich. Einfacher ist es, wenn man schon einen Namen hat; so konnte sich der Filmschauspieler Richard Bohringer mit seinem ersten Roman C'est beau une ville la nuit (Denoel) gleich auf den Platz des dritterfolgreichsten Buches der letzten Saison setzen, dicht hinter dem sehr erfolgreichen Goncourt-Preisträger von 1987, Tahar Ben Jalloun, und dessen La nuit sacree (Le Seuil).

Apropos „Saison“: Das literarische Leben in Frankreich ist beinahe wie das Schuljahr gegliedert; nach den Ferien gibt es die „Rentree“, den Neuanfang, danach hat die laufende Saison ihre verschiedenen Höhepunkte und Prüfungen, die Hauptliteraturpreise Ende November, das Weihnachtsgeschäft, das durch die Preise ganz wesentlich beeinflußt wird, die Frühjahrserscheinungen und Frühjahrspreise, der Buchsalon im April oder Mai, dann die Ferien, die aber keine wirklichen Ferien mehr sind, denn die Verlage gehen verstärkt dazu über, in groß angelegten Werbekampagnen die „Bücher für den Sommer“ zu empfehlen - mit der Folge, daß die Bedeutung und die Zahl der Literaturpreise zwischen März und Juni zunimmt. Denn soviel ist klar: Die Preise dienen der Steuerung des Buchmarktes, nicht der Ermutigung ästhetischer Experimente.

Wer sich eine Übersicht verschaffen will, der kann sich an die freitägliche Literaturbeilage der Tageszeitung 'Le Monde‘ halten. Anfang September erscheint jeweils in „Le Monde des Livres“ die Übersicht über die kommende Saison; Ende Juni ist dann ebendort die Bilanz „Was die Franzosen dieses Jahr gelesen haben“ zu finden.

Für 1987 machte die „litterature generale“ (Romane, Theater, Poesie, Essays und Humanwissenschaften) etwa 30 Prozent des Gesamtumsatzes der französischen Verleger aus, die zeitgenössischen Romane nehmen dabei von Jahr zu Jahr quantitativ ab. Zwei große Verlagsgruppen beherrschen den Markt: Hachette und Les Presses de la Cite, die aber weniger literarisch ausgerichtet sind als die Familienunternehmen Gallimard, Flammarion, Le Seuil; von den weiteren etwa 20 Verlagen in Paris müssen als literarisch besonders relevant Grasset und die Editions de Minuit genannt werden.

Die vielen Wahlen der letzten Jahre und die damit zusammenhängende Politisierung haben dem Buchmarkt geschadet (für die Zeitungen und Zeitschriften waren sie hingegen einträglich). Die politische Ermüdung zeigt sich auch darin, daß unter den zehn Bestsellern im Bereich „Essays und Dokumente“ sich kein Buch mit aktuellem politischem Bezug findet, sieht man einmal ab von den Erinnerungen des ehemaligen Staatspräsidenten Valery Giscard d'Estaing Le pouvoir et la vie.

Seit 1981 sind die Buchpreise gesetzlich geregelt, es gilt der „prix unique du livre“, was die Position der Buchhandlungen gefestigt hat. Die Anzahl der neuen Titel an der gesamten Buchproduktion nimmt ständig zu, bis zu 15 Prozent Neuheiten gegenüber dem Vorjahr, was die Lebensdauer der einzelnen Bücher verkürzt. Zugleich wächst die Bedeutung der Buchklubs, deren größter France Loisirs heißt, gefolgt von Le Succes du Livre.

Hier werden, nomen est omen, bestehende Erfolge ausgeweitet und ausgebeutet; neue Autoren kommen auf diesem Wege nicht zur Geltung. Doch sind auch sie auf die Erfolge der „Etablierten“ angewiesen. Laut Aussage eines Verlegers sind von den 220 Texten, die er pro Jahr herausbringt, nur etwa 30 Titel rentabel.

Den Löwenanteil in der Werbung erhält die Tageszeitung 'Le Monde‘, nämlich 40 Prozent des Gesamtvolumens; der literarische Werbekasten, der Tag für Tag die Frontseite dieser Zeitung ziert, „le pave“ genannt, kostet rund 50.000 Francs und ist einigen wenigen Verlagshäusern vorbehalten. Erst danach rangieren die Wochenzeitungen 'Le Nouvel Observateur‘ und 'L'Express‘ als Werbeträger.

Der Einfluß der freitäglichen Fernsehsendung Apostrophes in Antenne 2 läßt sich inzwischen auch beziffern: Der Verkauf der dort präsentierten und diskutierten Bücher steigert sich um durchschnittlich etwa 20 Prozent. Dieser Sendung versucht Patrick Poivre-d'Harvor auf TF1 Konkurrenz zu machen mit Ex-Libris, aber er kann noch keinen durchschlagenden Publikumserfolg vorweisen. Seine Sendungen sind bei weitem nicht so lebendig und so sachkundig wie die von Bernard Pivot.

Ein Sorgenkind bzw. ein Streitfall in der Buchszene in Frankreich ist der jährliche „Salon du Livre“. Seit zwei Jahren findet diese auf frankophone Länder und Verlage beschränkte Buchmesse in den recht sterilen Messehallen an der Porte de Versailles statt. Dort ist sie weder beim Publikum noch bei der Fachwelt „angekommen„; der Salon 1989 hat bei allen Beteiligten nur negative Eindrücke hinterlassen, auch bei den als Gästen geladenen deutschen Verlagen. Ab 1990 wird der Salon wohl wieder in den Grand Palais zurückverlegt, der zwar einen schöneren Rahmen bietet, aber doch reichlich eng ist. Immerhin ist diese Messe mit ihren überschaubaren Dimensionen eine gute Gelegenheit, sich über die frankophone Buchlandschaft zu informieren, man kann viele Autoren persönlich kennenlernen, man kann auch sehen, welche Vielfalt es an regionalen Verlagen gibt, vom Elsaß bis zum Perigord, von Marseille bis Rennes.

Zum Buchsalon werden auch die Preise der französischen Verleger verliehen, in Anlehnung an die Filmpreise (les Cesars) und Theaterpreise (les Molieres); sie heißen „les Gutembergs“ und werden in ganz verschiedenen Kategorien verliehen, wobei allerdings meist nur schon ausgezeichnete Bücher noch einmal prämiert werden, wie der sehr erfolgreiche Goncourt 1988 L'exposition coloniale von Erik Orsenna. Den recht seltsam klingenden Preis „Größte Nachwuchshoffnung der französischen Literatur“ erhielt dieses Jahr der 25jährige Alexandre Jardin für seinen Roman Le zebre (Gallimard), der schon den Prix Femina erhalten hatte und zu dem Dutzend Romane gehört, das die Grenze von 100.000 verkauften Exemplaren überschritt.

Den exorbitanten Erfolg von Marguerite Duras mit L'amant (Goncourt 1984, über eine Million Exemplare) hat seither kein anderer Autor auch nur annähernd erreichen können, womit diese Autorin, die man einst dem Nouveau Roman zurechnen konnte und die Ende der siebziger Jahre nur noch für ein ganz kleines Publikum zu schreiben schien, die erfolgreichste Autorin der achtziger Jahre in Frankreich sein dürfte. Über ihre Karriere als Kommentatorin des Tagesgeschehens in diversen Medien gehen die Ansichten weit auseinander.

Bemerkenswert in der letzten Saison war der große Publikumserfolg des posthumen Memoirenbandes Quoi? L'Eternite von Marguerite Yourcenar (fast 100.000 Exemplare). Ihr Roman L'OEuvre au noir gehörte gleichzeitig zu den erfolgreichsten Taschenbüchern der letzten Monate. In ganz anderer Hinsicht bemerkenswert ist der Erfolg einer deutschen Verlegerin in Paris: Maren Sell, die mit ihrem gleichnamigen Verlag seit September 1986 in einer Art Taubenschlag im Hinterhof der Rue Dauphine im 6. Arrondissement residiert. Ihr gelang ein erster Bestseller mit Liliane Siegels Erinnerungen an ihre - in den bisherigen Biographien übergangene - Zeit mit Jean-Paul Sartre (La clandestine), die inzwischen schon in mehrere Sprachen übersetzt sind. 1989 erhielt ihr Haus den Literaturpreis der Radiostation France-Inter, den eine Jury aus Hörern vergibt, für einen Roman von Philippe Hadengue mit dem Endlostitel Petite chronique des gens de la nuit dans un port de l'Atlantique nord. Kernstück dieses Verlages ist eine Buchreihe mit eleganten roten Einbänden: „Petite Bibliotheque Europeenne“ mit Autoren aus West- und Osteuropa. Mit seinem Programm und seinen Erfolgen hat sich das Haus von Maren Sell als anerkannter Verlag etabliert.

Wenn man von den Erfolgen und den Gesetzen des französischen Buchmarktes redet, dann kann man die großen Literaturpreise natürlich nicht außer acht lassen, die aus dem öffentlichen Leben nicht mehr fortzudenken sind. Wie jeden Juni hat 'Le Monde‘ bereits die „erste Selektion“ preisverdächtiger Bücher veröffentlicht, 14 Titel wurden genannt für den Goncourt-Preis, der am 20.November 1989 verliehen werden soll, an einem Montag, wie immer. Dieser Preis, der eigentlich den „besten Roman der Saison“ krönen soll, ist übrigens nur mit 50 Francs dotiert. Den betreffenden Scheck können sich die Laureaten eingerahmt an die Wand hängen, denn der eigentliche Gewinn besteht in der garantiert hohen Auflage, von 150.000 Exemplaren an aufwärts. Nach dem Goncourt gelten als bedeutendste Preise: Renaudot, Femina, Interallie und Medicis.

Der Goncourt bringt seinem Verleger etwa 5 Millionen Francs ein (für ein Haus wie Grasset das Volumen des Gesamtgewinns in einem Jahr). Der Autor bekommt, alle Nebenrechte wie Taschenbücher und Übersetzungen eingerechnet, bis zu 2 Millionen Francs.

Über die Vergabe-Praxis der Jury und deren Beeinflussung durch Verleger wird viel gemunkelt. Eine Form der Einflußnahme ist die Auflage oder Neuauflage von Romanen der Jury-Mitglieder, von denen einige ohnehin durch Angestelltenverträge an einzelne Verlagshäuser gebunden sind. Das Gros der Preise teilen sich die drei Verlage Gallimard, Grasset und Le Seuil, gelegentlich bedacht mit dem ironischen Sammelnamen „Galligrasseuil“. In den letzten zwanzig Jahren erhielten diese drei Häuser 75 Prozent aller Preise. Unter den Mitgliedern der Goncourt-Jury am einflußreichsten ist Grasset, das ein jährliches Budget von einer Million Francs für den Sektor Literaturpreise hat: Der Verlag muß pro Saison zwei Hauptpreise erhalten, um das wieder hereinzuholen. Auch die einflußreichsten Literaturkritiker sind in der einen oder anderen Form an Verlagshäuser gebunden.

Die materielle „Erscheinungsform“ der Literatur verstärkt ihren illusorischen Charakter, heißt es so schön in einer Sondernummer, die die satirische Wochenzeitschrift 'Le Canard Enchaine‘ unter dem Titel „La tournee des pages“ im Juni 1989 herausgebracht hat.

Wenn wir von diesen materiellen Betrachtungen zur literarischen Entwicklung selber übergehen, so ist festzustellen, daß die französische Literatur der achtziger Jahre in Verruf geraten ist. Es hat sich allgemein das Vorurteil verbreitet, daß an der Seine nichts Lesenswertes mehr geschrieben werde. Sieht man von dem schon erwähnten Roman L'amant von Duras ab, so hat sich kein französischer Text auf dem Buchmarkt außerhalb Frankreichs auffällig behaupten können.

In den achtziger Jahren starben einige große Autoren, die für den Weltruhm der französischen Literatur nach 1945 gesorgt hatten: Jean-Paul Sartre (1980), Roland Barthes (1980), Simone de Beauvoir (1985), Louis Aragon (1985), Marguerite Yourcenar (1987).

Es gibt heute kein Zentrum des literarischen Schaffens mehr (in Gestalt von Verlagen oder Zeitschriften), es fehlen die großen Leitfiguren und die großen Streitfragen, die französische Literatur muß sich auch in Frankreich selbst neben den anderen Literaturen behaupten, die Literatur hat ihre kritische Sprengkraft eingebüßt.

Kritisches ist nur dann zugelassen, wenn es mit dem Reiz des Spielerischen einherkommt, die Psychoanalyse und das Engagement sind für die neueren Autoren keine Referenzen mehr - so lauten die Befunde über den Zustand der französischen Literatur am Ende der achtziger Jahre, die in verschiedenen Untersuchungen und Sondernummern zum diesjährigen Buchsalon zu lesen waren. Dennoch ist kein Anlaß zu Pessimismus. Die achtziger Jahre waren eine Zeit eines Generationswechsels, dessen erste Bilanz sich schon ziehen läßt.

Die Liste der interessanten Namen ist lang, sie reicht vom Goncourt-Preisträger 1988 Erik Orsenna (der mit L'exposition coloniale eine Familiensaga schrieb, wie man sie immer noch gern liest in Frankreich, und der bei seinen diversen Medienauftritten ein ausgesprochenes Komikertalent bewies) über Fran?ois Weyergans (Je suis un ecrivain), Jean-Marie Le Clezio, der seine literarische Laufbahn schon in den sechziger Jahren begann, bis zu jüngeren Autoren wie Michel Rio (Merlin, 1989) und Jacques Roubaud (Le grand incendie de Londres, 1989).

Nicht genügend beachtet unter den derzeit diskutierten Autoren wird Helene Cixous, die schon etwa 25 Titel aufzuweisen hat und die aus dem eingeengten Bereich der feministischen und psychoanalytischen Literatur herausgetreten ist und etwas gemacht hat, was in den achtziger Jahren beinahe totgesagt war: aktuelles politisches Welttheater. Sie hat für die eigentümliche Spielweise des Theatre du Soleil Stücke über Kambodscha und über Indien geschrieben, die ein großer Publikumserfolg waren, von der professionellen Kritik aber mit ein wenig herablassender Geringschätzung bedacht wurden.

Mehr als einen Achtungserfolg errang die geschulte Soziologin Annie Ernaux mit ihren sachlichen, nüchtern geschriebenen autobiographischen Milieustudien (fünf Titel seit 1974, davon am erfolgreichsten Une femme, 1988). Sie versucht in der unspektakulären Beschreibung eines Kleinbürgerlebens in der Provinz ihre eigene Gattung zu schaffen, in der sich, fernab aller Formexperimente, Traditionen des realistischen Romans und der Soziologie vermischen und wofür in Frankreich offensichtlich eine große Nachfrage besteht.

Die bemerkenswerteste Tendenz der achtziger Jahre war die Ablösung der programmatischen Avantgarden, die die Jahrzehnte zuvor beherrscht haben. Die namhaftesten Vertreter sowohl des Nouveau Roman wie der kulturrevolutionären Gruppe „Tel Quel“ haben sich mit aufsehenerregenden Texten bemerkbar gemacht, die samt und sonders mit dem einstigen „formalistischen“ und avantgardistischen Credo gebrochen haben und die eine starke Tendenz zum Autobiographischen zeigen. Dabei erweist sich die Zeit um 1983/84 als ein markantes Datum.

Genannt werden müssen hier Alain Robbe-Grillet mit Le miroir qui revient, dem 1988 ein zweiter Teil folgte, Angelique, ou l'enchantement, Nathalie Sarraute mit Enfances und natürlich der unerreichte Bestseller der achtziger Jahre: L'amant von Marguerite Duras, dessen Siegeszug ein literatursoziologisches Rätsel darstellt.

Wenn ein französischer Autor den Verlag wechselt, und das heißt oft genug von der einen Seite der Rue de l'Universite auf die andere, dann kann das gleichwohl ein Ereignis von Bedeutung sein. So hat 1983 Philippe Sollers einen dreifachen Wechsel vorgenommen: von den Editions du Seuil zu Gallimard, von experimentellen Romanen zu publizitätsträchtigen Skandal- und Schlüsselromanen, von einer theoretisch fundierten Avantgarde-Schreibpraxis (mit der Zeitschrift 'Tel Quel‘ als Forum der gleichnamigen Gruppe) zu immer neuen medienwirksamen Auftritten. Der Literaturkritiker Jean-Pierre Salgas sieht in diesem Schritt eine Wendemarke in der jüngeren französischen Literaturproduktion.

Seit 1984 hat Sollers eine Reihe von Schlüsselromanen aus dem intellektuellen Leben von Paris vorgelegt, oder sollte man sagen „Schlüsselloch„-Romanen, von denen bisher Femmes und Portrait du joueur am erfolgreichsten waren. Auf seine Weise ist er ebenso ein Abtrünniger der kulturrevolutionären Avantgarde wie sein einstiger Weggefährte Umberto Eco, ohne aber dessen internationale Wirkung zu erreichen. Die Alkovengeheimnisse und die Seelenzustände von Pariser Intellektuellen scheinen weltweit nicht so interessant zu sein wie Kriminalfälle in mittelalterlichen Klöstern.

Verändert hat sich in den achtziger Jahren das Selbstverständnis des Schriftstellers. Der Schriftsteller soll und will kein Intellektueller mehr sein, wie es Sartre verstand und definiert hat, in Texten und Taten. Das Schreiben und die Theorie sind wieder auseinander getreten, auch bei den wort- und federführenden Gestalten in Paris. Die Autoren wurden nach Sartres Tod wieder zu Spielern und zu Form-Künstlern.

Der König dieser anti-intellektuellen Literatur der achtziger Jahre ist zweifelsohne Philippe Djian. Er begann als Kultautor gewisser Teile der jungen Generation; die Verfilmung seines Romans 37,2‘ le matin (1984) durch Jean-Jacques Beneix (als Betty Blue) hat ihn dauerhaft in die Bestsellerlisten gebracht, was ihn nicht hindert, weiterhin seinem ersten Verlag treu zu bleiben, dem kleinen Haus Bernard Barrault. Die Geschichten, die er erzählt, sind inhaltsarm, banal, klischeehaft. Seine ganze Kunst liegt in seinem Stil, einer scheinbar nachlässigen, derben und oft vulgären, aber für literarische Zwecke systematisierten Alltagssprache, die in unverwechselbarem Rhythmus daherkommt. Ein Hauch von heruntergekommenem Wilden Westen liegt über seinen Texten, Schlägereien und Gaunereien sind immer nahe, aber der Inhalt, soweit er sich nicht um sentimentale Liebesgeschichten, um den Genuß von Sex und von Dosenbier dreht, betrifft eigentlich die langweiligste Sache der Welt: den Alltag eines eingebildeten Schriftstellers.

Djian schreibt Selbstbespiegelungen im Gestus von Action -Romanen. Dabei erzeugt die Sprache und die Euphorie des Tonfalls einen sehr animierenden Effekt, zumindest bei rascher Lektüre.

Immerhin zeigt sein jüngster Roman Echine (1988) eine leichte Tendenz zur inhaltlichen Besänftigung und zu klassischerem Erzählen, wenn es auch weiterhin um Schriftstellernöte geht. Djians Romanfiguren sind übrigens immer ein wenig älter als ihr Autor zum Zeitpunkt des Abfassens. So erfindet er sich den Kontrapunkt zu seiner eigenen glänzenden Zukunft in einem Literaturbetrieb, der so schnell nicht zu erschüttern ist.

In Djians Erfolg zeigt sich deutlich, wie sehr sich das Bild des Schriftstellers in Frankreich verändert. Niemand blickt mehr über sein eigenes Schreiben hinaus, man spinnt sich ein in sein eigenes Produzieren, und das mit Lust und ohne schlechtes Gewissen, ohne Rechtfertigungszwänge und ohne Schuldgefühle. Djian, der Unbekümmerte, und Sollers, der zynische Nachrufschreiber der Avantgarde, sind in gewisser Hinsicht als Antipoden kennzeichnend für die französische Literatur der achtziger Jahre.

Nach dem Wahlsieg der vereinigten Linken 1981 gab es eine kurze Phase der politischen Euphorie, die sich von heute gesehen als Abschied von linken Illusionen ausnimmt. Die „kulturelle Linke“ hat kein Paradigma mehr, seit dem Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs keinen institutionellen Rückhalt mehr, seit dem Tod von Jean-Paul Sartre keine treibende Kraft und auch kein „Gewissen“ mehr.

Doch handelt es sich hier nur um die französische Erscheinungsform eines weltweiten Phänomens. Die Linke insgesamt hat zwischen dem Gulag-Schock der siebziger Jahre und dem Massaker von Peking 1989 ihre theoretische Basis und ihre praktische Perspektive verloren. Dieser Paradigmenverlust hat sich auch nachhaltig auf die Literatur ausgewirkt.

Wichtigster Schauplatz der allerneuesten Schriftstellergeneration ist ein kleiner Verlag, der schon einmal Literaturgeschichte gemacht hat: die Editions de Minuit, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Autoren des Nouveau Roman herausgebracht haben. Das Haus, das seit 1949 von Jerome Lindon geführt wird, war auf kleine Auflagen und auf eine langfristige Editionspolitik angelegt. In den letzten Jahren gab es allerdings einige spektakuläre Prämien für diese Kontinuität: 1969 den Nobelpreis für Samuel Beckett, 1984 den Weltbestseller L'amant, 1985 den Nobelpreis für Claude Simon.

Im Laufe der achtziger Jahre trat dort eine neue Generation von Autoren hervor, die zwar nicht eine gemeinsame Schule oder Strömung darstellen, aber doch unübersehbare Gemeinsamkeiten in der Schreibweise und der Erzählkonstruktion aufweisen. Für die mehr spielerisch -formalistische, scheinbar ungerührt oberflächliche Schreibweise dieser Autoren sind schon erste Etikette im Umlauf, „literarischer Minimalismus“, „anderer Roman“, „empfindungslose Romane“.

Vorreiter dieser Bewegung war Jean Echenoz (Le meridien de Greenwich, L'equipee malaise), bald gefolgt von Herve Guibert (L'image fantome, Les gangsters). Bemerkenswert auch Fran?ois Bon (Le crime de Buzon) und Marie Redonnet (Splendid Hotel). Die meiste Beachtung von allen jungen Minuit-Autoren hat ein in Korsika lebender Belgier gefunden: Jean-Philippe Toussaint, dessen Erstling La salle de bain über 50.000mal verkauft und bereits verfilmt wurde. Sein letzter Roman L'appareil-photo wurde von der Kritik mit hohem und einhelligem Lob bedacht. Patrick Deville und Eric Chevillard eifern der skurrilen und artistischen Schreibweise von Toussaint nach. Leichtigkeit, Clownhaftigkeit und Spiellaune kennzeichnen das Schreiben dieser allerneuesten Avantgarde ohne Programm.

Die Idee einer programmatischen Avantgarde als Moment einer Kulturrevolution ist ästhetisch ausgereizt und politisch diskreditiert. Im übrigen haben, stärker als die Texte und die Theoreme der Avantgarde, die Medien die Rezeptionsgewohnheiten der Leute verändert. Der „zappeur“, der Fernsehzuschauer, der mit seiner Fernbedienung von Kanal zu Kanal hüpft, um sich sein eigenes Programm-Puzzle zu montieren, macht sich Godards Filmtechnik auf kreative Weise zu eigen. Die Fernsehkritik in der Zeitung 'Liberation‘ heißt denn auch zu Recht „le salaire du zappeur“.

In und mit den Medien spielen: Der Zuschauer benimmt sich da nicht anders als die Autoren. Auch der Avantgardist entdeckt sich schließlich als bloßer Spieler auf den Strömungen der Zeit.

1985 hat Philippe Sollers sein Selbstporträt als Spieler gezeichnet. Er kehrt zurück von allen ideologischen Abenteuern, zurück zu seiner Lebensgeschichte, zu seiner Heimatstadt Bordeaux, zu seinen Ängsten und zu seinem Wunsch nach Dauer. Was bleibt von Zeiten der Unruhe und der Katastrophe übrig, wenn sie vergangen sind, fragt sich der Held seines Romans Portrait du joueur (1985): Bilder, Bücher, Melodien - also ein kulturelles Erbe. Die Anerkennung der Tradition ist das letzte Wort des abgedankten Kulturrevolutionärs. Der vermeintliche Verkünder neuer Wahrheiten, der Experimentator neuer Schreibweisen muß zuletzt anerkennen, daß Literatur, auch seine eigene, doch nur die stets neue Aneignung überkommener Funktionen der Lüge und des Spiels ist. Aber vielleicht muß man sich sehr weit vorwagen, um im Rückblick zu sehen, wie groß und wie unverzichtbar das Erbe ist, das man ausschlagen wollte.

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