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Hohe Konjunktur fürs Ur

■ Unerhörte Musik bei den Berliner Festwochen und anderswo

Elisabeth Eleonore Bauer

Nur das Wahre ist das Echte. Oder vielmehr, das Gute und das Schöne. Oder so. Und in allem, was ein Ur- hat, steckt der Geist des Wahren: Urwald, Urlaub, Urkunde, Urabstimmung, Urgroßvater, Urtext, Urschrei, Urquell, Uralt, Asbach und Lavendel. Eine Uraufführung. Da weiß man, was man hat.

Kein Festival ohne wenigstens zwei bis fünf Uraufführungen, auch pro Opernsaison sollte es möglichst eine sein. Die Uraufführung garantiert große Presse. Zur Uraufführung reist man an. Bei einer Uraufführung muß man extra aufpassen. Guck mal, jetzt kommt die Uraufführung - sagt die Dame in der Philharmonie zu ihrer Freundin und setzt sich gerade hin. Das Stück vorher haben beide noch verschlafen, sie sind erst zum Klatschen aufgewacht. Der bleiche Jüngling im Kammermusiksaal nebenan schläft offenbar nie. Doch auch er läuft rosig an und weist die Nachbarn im weiteren Umkreis beglückt darauf hin: Jetzt kommt die Uraufführung.

Und dann kommt sie. Nur Obacht, meine Damen und Herren, eine Uraufführung ist nicht unbedingt gleich eine Uraufführung, auch wenn es schwarz und weiß auf dem Programmzettel steht. Dieses hübsche Bläserquintett zum Beispiel, vorgetragen vom Ensemble Wien-Berlin, kommt so spielfreudig neoklassizistisch daher, daß man glauben möchte, es habe seine 30, 40 Jahre auf dem Buckel - oder, im zweiten Satz mit den minimalistischen Einschlägen, doch immerhin 20. Dabei ist das Stück wirklich echt ur- und gerade taufrisch von dem österreichischen Tonsetzer Helmut Eder erfunden worden - im Auftrage der Berliner Festwochen 1989.

Oder nehmen wir den ganz anders gelagerten Fall vom Tag zuvor: Da spielte das hervorragende „Chamber Orchestra of Europe“ im gleichen Saal sieben witzige Miniaturen voll mit Sentimentalität und überraschenden Bocksprüngen, jede höchstens eine Minute lang. Diese Suite heißt auf gut deutsch Ein kleines Nichts und könnte heute oder morgen entstanden sein. Nur ist der Komponist schon lange tot, die Musik diesmal in der Tat mehr als 20 Jahre alt. Und doch: Es handelt sich um eine Welturaufführung, freilich um keine total lupenreine: Un petit rien von Bernd Alois Zimmermann, mit dem langen Subtitel Musique legere, lunaire et ornothologique, d'apres 'Les oiseaux de la lune‘ de Marcel Ayme war ursprünglich eine Hörspielmusik. Eine von den vielen Brotarbeiten, mit denen sich Zimmermann in den fünfziger Jahren durchs Leben schlug - vor dem großen Durchbruch mit der Oper Die Soldaten. Die Musik zu den Mondvögeln ist also 1958 schon einmal im Radio gelaufen, nur in anderem Kontext und anders instrumentiert - 1964 wurde sie noch einmal für den Konzertsaal bearbeitet.

Mit dem Ur ist es wie mit dem Bio: Aufs Etikett ist kein Verlaß, man muß schon genau gucken, was drin ist. Ur heißt nicht neu oder etwa, wie der Duden behauptet, original, unverfälscht, rein. Das Ur ist bislang nicht gesetzlich geschützt. Eine Uraufführung (UA) ist nur: die allererste Aufführung eines Werkes oder einer Bearbeitung eines Werkes oder einer Übersetzung eines Werkes oder einer Bearbeitung einer Übersetzung eines Werkes oder einer sonstwie gearteten Neufassung. Als Trostpreis fürs Lokale gibt es dann noch die Erstaufführung (EA) - so lautet die offizielle Definition. De facto gibt es natürlich noch viel mehr Sorten von UAen.

Der häufigste Fall ist die UA als Auftragswerk. Wir haben es dabei mit einer Art von Hausaufgabe zu tun, die zum Beispiel bei den heurigen Festwochen außer von Eder auch noch von Ruth Zechlin und Frank Michael Beyer recht zufriedenstellend gelöst worden ist. Allerdings läuft die Auftrags-UA stets Gefahr, zur qualvollen Fleißarbeit zu werden: Bestellt, bezahlt, gewidmet - der Rubel rollt, der Ruhm winkt, der Künstler ringt terminbedrückt mit den Musen. Ein Problem, das etwa zu Bachs Zeiten noch völlig unbekannt war, weil man damals zwar im Auftrag komponierte, aber noch unbehelligt vom Ur. Der Begriff der Uraufführung mit seiner strahlenden Aura und all den anderen für die Inspiration so schädlichen Begleitumständen taucht in den Gazetten nämlich erst im Jahre 1902 auf (vorher hieß es schlicht Premiere, aber das war den Leuten zu französisch). So geschieht es, daß die UA-Kompositionen heutzutage oftmals ungebührlich lang geraten nach dem Motto: Es gibt nichts zu sagen, das aber gründlich - oder sie werden, ganz im Gegenteil, kurz und kürzer. Denn auch das liegt im Trend: Neue Musik braucht vor allem kleine Werke für handliches Ensemble - besonders beliebt ist darum die pflegeleichte Dreiminuten-UA.

In diesem Fach ist György Ligeti Meister: unübertroffen zum Beispiel sein preisgekrönter Zyklus von sechs Klavieretuden. 1986 bekam er dafür den „Grawemeyer Award for Music Composition“, das brachte 150.000 Dollar für zirka 21 Minuten Musik - pro Stück im Schnitt also dreieinhalb Minuten a 25.000 Dollar. Dazu braucht es nur einen Flügel samt Spieler, der muß freilich von Format sein, etwa so wie Volker Banfield, der Ligetis Wunderwerk damals uraufgeführt und gleich eingespielt hat für Wergo. Ein Pianist, der so raffinierten Hokuspokus wie die rasante Unordnung in der ersten, die blockierten Tasten in der dritten oder die vertrackte Polyrhythmik in der sechsten Etude einfach aus dem Ärmel schüttelt und dazu noch mit seiner traumhaften Scarlatti- und Skrjabin-Interpretation zeigte, daß man die ganze Musikgeschichte im kleinen Finger haben kann. Außerdem brachte er zwei neue Ligeti-Etuden zur Uraufführung: die eine ist unerhört virtuos, die andere dafür klangschön, die eine Banfield gewidmet und die andere dem Festwochenchef Eckardt. Man darf erwarten, daß über Jahr und Tag noch weitere Ligeti-Etuden ins Haus stehen, bis dann der zweite Zyklus beisammen ist.

Das ist die clevere Lösung. Für mindestens vier Dreiminuten -UAs ist somit vorgesorgt, und der obligatorische Opuscharakter stellt sich nachträglich auch noch ein - quasi in Raten. Wie ganz anders der DDR-Komponist Friedrich Goldmann: der hat schon mit einem Auftrag sein Plansoll übererfüllt und den Festwochen eine Sinfonie in vier Sätzen beschert, die alles andere ist als pflegeleicht. Goldmann zieht sämtliche Register, er scheucht das Orchester durch thematische Labyrinthe und kitzelt heraus, was es nur an Farben und Effekten zu bieten hat. Die Klänge wachsen und schrumpfen, und schließlich implodieren sie - ein gewalttätiges Stück, mit dem das Publikum denn doch entschieden unzufrieden war. Man hat eben, bei aller Konjunktur fürs Ur, keine Zeit für eine Musik, die sich Zeit nimmt. Erst recht nicht, wenn es sich um so etwas Unzeitgemäßes handelt wie Sinfonien.

Eine besondere Klasse von Uraufführungen ist dagegen erst in jüngster Zeit zu voller Blüte gelangt: die Ausgrabungs -UAs. Da die aktuelle Musikproduktion dem allgemeinen Bedürfnis nach authentischen Ur-Erlebnissen offenbar nicht in gebührendem Ausmaße nachkommt, muß die Musikgeschichte immer mal wieder umgepflügt werden - auf der Suche nach Werken, die bislang unerhört geblieben sind.

So werden also dem unbekannten Komponisten posthum Kränze geflochten, und auch von den bekannten sind noch genug interessante Jugendsünden zu entdecken - ob Schätze oder Schrott, darauf kommt es nicht an. Für die Berliner Festwochen hat man (natürlich Frankreich zu Ehren) in diesem Jahr den Faureschüler Charles Koechlin hervorgekramt und kurzerhand zum Klassiker der Zukunft erklärt. Das ist ganz bestimmt ziemlich übertrieben. Zwar sind die Landschaftsbilder des Amateurfotografen Koechlin, die im Foyer des Kammermusiksaals aushängen, durchaus stimmungsvoll, und die Liste der Leute, die er kannte, ist ebenso beeindruckend wie die Zahl seiner unveröffentlichten oder unuraufgeführten Werke. Auch freut es zu hören, daß in Kassel seit Kürze ein „Archiv Koechlin“ aufgebaut wird. Die Kompositionen aber, die da nun zur UA oder EA gebracht wurden, klingen beim besten Willen einerlei. Vom Orchester -Nocturne op. 129 (Im Anblick des Sternenhimmels) bis zur Sonatine op. 194: Alles hat seine lineare Wogediefließediewelle-Melodik, die Harmonik beschränkt sich auf das plong plong zur guten Taktzeit, und rhythmisch spielt sich rein gar nichts ab. Kurz: eine Musik, zu der sich nahtlos ein Naturfilm nach dem anderen drehen ließe.

Koechlin hat viele musiktheoretische Schriften verfaßt. Doch wer etwas von Musik versteht, kann noch lange keine komponieren. Er hatte außerdem eine Schwäche für Filmstars und für Kiplings Dschungelbuch - aber Schwächen kann sich ein echtes Ur eigentlich nicht leisten. Der Ur übrigens, das Urvieh mit den Hörnern, auf den noch die alten Germanen in den Wäldern Jagd machten, ist seit Jahrhunderten ausgestorben. Erst Klopstock hat ihn literarisch wiederentdeckt - und etwa zur gleichen Zeit hat sich auch das Praefix Ur im deutschen Sprachraum enorm vermehrt. Das hängt, so heißt es bei Grimm, „mit dem Umschwung des geistigen Lebens zusammen, das über die platte Erfahrung der Aufklärungsbildung hinaus zu den ursprünglichen Quellen des Lebens zu gelangen sucht“. Mit den Quellen des Lebens haben die UAs heute jedenfalls nichts mehr zu tun - viel eher schon mit platten Erfahrungen. Und die sind gut fürs Geschäft.

Jenseits der großen Konzertsäle und Festivals schießen die musikalischen Selbsthilfegruppen aus dem Boden, die solchem Übel entgegensteuern wollen. In Berlin gibt es bald ein Dutzend davon: Interpreten, die an neuer Musik aufführen, was sie selbst mögen. Komponisten, die ihre Musik selbst vorführen. Kleine Konzertreihen, die sich dem Experiment verschrieben haben. Sie sind untereinander verschwistert und verschwägert, ganz wie die Großen, sie werden mehr oder weniger subventioniert, freilich nie so wie die Großen - und natürlich streiten auch sie sich ums Geschäft. Aber sie haben das bessere Programm, und sie machen - ganz ohne Urtamtam - viel öfter unerhörte Musik. Das Ensemble „work in progress“ zum Beispiel brachte Ende September in der Akademie der Künste sieben Gelegenheitswerke von Bernd Alois Zimmermann zu Gehör - kleine Kostbarkeiten eines Komponisten, der zwar dank seiner einzigen Oper einen großen Ruf hat, von dem man aber landläufig nur diese kennt und sonst nichts. Die Gruppe Inselmusik kündigt für den November Stücke von Scelsi, Hölszky, Spahlinger und Lachenmann an, die Cellistin Uitti spielt ein Stück von sich selbst, Robyn Schulkowsky spielt Schlagzeug, und außerdem gibt es noch die verrücktesten Sachen für Frauenvokalensemble.

Fünf Treppen hoch in einer Fabriketage in Kreuzberg heißt das Abonnementskonzert jeden Dienstag abend Unerhörte Musik. Der September - Festwochenzeit - war dabei noch ein vergleichsweise klassischer Monat: zwei Klavierabende, einmal witzig und einmal trocken. Eine endlose autistische Violin-Performance. Und dann: Das umwerfende Ensemble improvisierender Berliner Komponisten (BICE). Warum diese jungen Leute ihren Namen unbedingt amerikanisieren müssen, ist nicht bekannt - daß sie voll Wollust alles zum Klingen bringen - die Noten und das, was sie daraus machen, ihre Instrumente, den Raum und das Bauchfell der Leute, die zuhören - das ist verbürgt.

Und das Schönste daran ist: Es handelt sich durchweg nach strenger Definition um UAs. Nur werden sie nicht so deklariert. Und überhaupt kommt Musik, wenn sie wirklich unerhört ist, vollkommen ohne das germanische Praefix aus.

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