: Es bleibt alles ganz anders
■ Honecker geht, Krenz bleibt / Hektik im Westen und Ruhe im Osten / Eine Reportage aus Ost-Berlin und rund um den Alexanderplatz
Gegen Mittag Aufregung in der Redaktion. Das ZK der SED tagt in Ost-Berlin, Honecker wird vermutlich zurücktreten. Erste Diskussionen, fährt einer rüber oder nicht. Gemach, gemach, meint unsere Auslandsredaktion, erfahrungsgemäß reden alte Männer langsam, eine Entscheidung wird vermutlich erst in der Nacht fallen. Zwei Stunden später die Nachricht, Honecker ist schon zurückgetreten und das am hellen Mittag. Also neue Zeitplanung, neue Seitenplanung, neues Layout, große Hektik, Ausweis und Mehrfachberechtigungsschein zusammengekramt und ab in den Osten. Eine Reportage wird gewünscht, O-Ton, die Stimmung auf der Straße. Was sagen die Leute dazu, daß Honecker geht und Krenz kommt. Sagen sie überhaupt was? Fast wäre der Redaktionsauftrag schon an der Grenze gescheitert, eine Stunde Taschenkontrolle, penibelste Befragung, die Uhr tickt, der VoPo läßt sich Zeit, dem Reporter bricht der Schweiß aus, Redaktionsschluß ist in vier Stunden und zurück muß man auch noch. Kurz vor vier endlich auf dem Alexanderplatz. Da steht die Weltuhr vor der sich vor zehn Tagen die Menschen versammelt haben, der Platz, von dem die erste Demonstration in Ost-Berlin seit 1953 ihren Anfang nahm. Ein zentraler Platz, auch heute belebt, ein Kommen und Gehen, ganze Schulklassen, viele Touristen, der Zeitungsfrau am Kiosk werden die Tageszeitungen aus der Hand gerissen. Also ran an die Basis und die Zeitungsfrau gefragt. „Haben Sie gehört, Honecker ist eben zurückgetreten, was sagen Sie dazu?“ - „Das kann doch nicht stimmen“, meint sie, „der ist doch schon letzte Woche zurückgetreten.“ Die Kunden ringsum sind besser informiert, „ja, ja, woher sie das wieder wissen, das ZK tagt doch eben erst... und wenn schon, die Aktuelle Kamera wird's erklären.“ Friedliche Stimmung auf dem Alex, die Sonne scheint, es sind 17 Grad - und das ist viel wichtiger. Keine Diskussionsgruppen, keine Spannung in der Luft, ein Tag wie fast jeder andere, also auf zum Informationsbüro, den Leiter gefragt: „Haben Sie schon gehört...“ Nein, hat er nicht, „ich arbeite.“ Ruhe auch auf dem Karl-Marx-Platz, Stille vor dem Staatsratsgebäude, Schweigen am Roten Rathaus. Vielleicht ist mehr Atmosphäre vor der Gethsemane -Kirche, um 18 Uhr beginnt dort die Mahnwache. Ja, dort stehen die Informierten, die jungen „Erneuerer“ mit Kerzen und die alten „Bewahrer“ in grauen Anoraks. Ein Kofferradio läuft, Joachim Herrmann und Günther Mittag nehmen auch ihren Hut, Egon Krenz bekommt mehr Macht durch Ämterhäufung, als Honecker je hatte. Das Ereignis wird kommentiert, „alter Wein in neuen Schläuchen“, ist der Tenor. „Was soll sich denn ändern, es bleibt alles ganz anders“, bringt es einer auf den Punkt. „Eine Perfidität“, überspitzt ein anderer, „um den politischen Druck abzumildern, wird das Personenkarussell in Gang gesetzt, grundlegende Reformen werden umgangen.“ „Krenz“, so schimpft jemand, „dieser Kronprinz, der den Mördern in China die Füße geleckt hat, ...protestierende Schüler von der Ossietzky-Schule relegiert und Rockfans abgemahnt hat ...der bringt nichts.“ Nein, hier vor der Gethsemane-Kirche ist von einer Neugier auf neue Zeiten nichts zu spüren. „Die werden uns kaputt dialogisieren wollen, aber mehr auch nicht.“ Während im Radio Krenz Honecker ehrt, befestigen junge Leute ein Plakat an die Kirchenwand. Die für den 4.11. geplante Demonstration des Künstlerverbandes für Presse- und Meinungsfreiheit findet aus „genehmigungsrechtlichen Gründen“ erst am 19.11. um 10Uhr vor dem 'adn'-Gebäude statt.
Horst Förster
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