: Quasi live - Erbeben am TV
Die sogenannte „World Series“ (wie die Baseballfinale in den USA heißen) sind schon vor ihrem ersten Spiel am letzten Samstag in die Geschichte dieses Sports eingegangen, denn zum ersten Mal seit Jahrzehnten stehen sich zwei örtliche Nachbarn gegenüber: Die Oakland Athletics und die San Francisco Giants. Also - San Francisco und Region im Baseballfieber... Der ausverkaufte Candlestick-Park füllte sich gerade bis zum letzten Platz auf; die Mannschaften sind bei ihren letzten gymnastischen Aufwärmübungen und dabei, den Platz zu betreten.
Dies ist die Situation, in der die großen Networks - hier ABC - alle ihre Talente entfalten. Die Message ist eindeutig: Wer jetzt vom Bildschirm wegrennt, wird es sein Leben lang bereuen. Die Super-Highlights laufen ab - die erste Umschaltung in den Ballpark soll eine kleine pregame -show mit Interviews der Superstars einleiten... Dann ein kurzes Wackeln, und „der Film reißt“ - Rauschen, Flackern, noise; erste Gedanken: auch die Satellitentechnik ist eben nicht perfekt, wie alles von Menschenhand... Dann Versuche des Fernsehkrisenmanagements - erst mal Testbild Zeitgewinn; das verlorene Bild ist nicht wiederzufinden irgendein Breakdown in der Übertragungskette; nach ein, zwei Minuten - eine Ewigkeit in einer Situation, in der es eine Million Dollar kostet, eine halbe Minute dieser Zeit zu mieten - schaltet sich ABC mit einem zentralen Testbild ein und spielt gleichzeitig die Radioübertragung eines Lokalsenders ein:
Im Hintergrund die angewachsene Geräuschkulisse von 60.000 Menschen; rocking crowds nennen es die US-Reporter später: nervöse Aufgeregtheit - Beifall brandet auf - 15 Sekunden lang ist die Candlestick-Arena mit ihren hochaufragenden Stahlbetonrängen regelrecht durchgeschüttelt worden. Die Massen, elektrisiert, begreifen nicht, wohl in einen Taumel gerissen, der die Grenzen zwischen Euphorie und Angst ausgewischt hat. Viele mögen wohl geglaubt haben, der Veranstalter habe mit einem „Superlooping“ zu Beginn des Spiels das „Historische“ dieses Ereignisses unterstreichen wollen.
Am Bildschirm wechselt das Motiv - die Energieversorgung in San Francisco ist völlig zusammengebrochen und damit auch die ABC-Übertragung. CNN (Cable Network News) schaltet sich ein und verschafft dem Zuschauer eine earthquake live night. In professioneller Eile wird ein Netz geschaltet zwischen San Francisco, Atlanta, Washington etc. Der Traum von Katastrophenjournalisten ist Wirklichkeit geworden: Telefoninterviews mit Betroffenen, Tickermeldungen, Gerüchte: mehrere große Brände; Teile der Bay Bridge und Golden-Gate-Brücke sind zusammengebrochen; die großen Interstate-Straßen 101 und 880 sind dort, wo sie aufgehängt sind, zerstört. ...Unsere Helikopter mit CNN-Kameras sind unterwegs, „so stay tune, we'll be back after these messages“ ... (commercialtime) ... auch diese Nachrichten müssen verkauft werden. Erstes Filmmaterial: die Bay Bridge, Zerstörung der Fahrbahn, Ahnungen einer unterbrochenen Rush -hour; zerstörte, zerquetschte Fahrzeuge. Die Downtown mit ihren Hochhäusern scheint vom Schlimmsten verschont, aber Helikopteraufnahmen von einem außer Kontrolle geratenen Brandherd, nahe Fishermen's Wharf. Dann Betroffene: genervt, geschockt - jedenfalls noch keine Zeit für Tränen... Opfer, Zahlen, Statistiken bleiben der Phantasie überlassen. Gegen Ende des ersten Teils der Übertragung - in San Francisco bricht inzwischen die Nacht an - die Belohnung für die, die ausgehalten haben.
Ein Amateur hat mitgefilmt, wie auf der Bay Bridge ein KFZ in einen sich aufreißenden Spalt direkt hineinfährt: dreimal slow motion... zum Schluß zurück ins Stadion zur Durchsage von dort vorfahrenden Polizeiwagen. „Das Spiel für heute ist abgesetzt; bitte behalten sie ihre Eintrittskarten, denn die World-Series wird fortgesetzt.“
Stefan Saarbach
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