: „Früher nannte man das konkrete Illusion“
■ „Sozialismus out“ oder: Was ist aus unseren Träumen geworden? - Folge 3: Interview mit dem alten „Sozi“ und Bremer Finanzsenator Claus Grobecker
taz: Blamiert sich in Osteuropa - und speziell für uns in der DDR - nicht auch die ...
Grobecker: Was heißt „für uns“?
Für uns Deutsche.
Grobecker: Ach so.
.. nicht die Arbeiterbewegung ganz furchtbar?
Grobecker: Darf ich mal vorweg was zurückfragen: Wie erklären Sie sich, daß diese ganzen Neo-Marxisten, diese Frankfurter Schule, diese Adorno-Epigonen sich jetzt zu dieser Katastrophe nicht zu Wort melden? Warum hört man von denen nichts? Stattdessen fragen Sie einen Diplom -Pragmatiker.
Die sind vielleicht ...
Grobecker: Die sind abgestorben. In Funktionen geraten oder anderweitig abgestorben.
Gibt es in Bremen welche?
Grobecker: Ich kenn‘ hier keinen.
Der Domprediger.
Grobecker: Der ist doch ein gemütlicher Mann.
Und was ist mit der Arbeiterbewegung?
Grobecker: Das ist ein ernster Punkt. Die Arbeiterbewegung ist schon diskreditiert worden durch die erste Abspaltung der spartakistischen Bewegung und der späteren KP...
Neunzehnhundertfünfzehn..
Grobecker: Siebzehn. Hinsichtlich der Ziele der Arbeiterbewegung, Sozialismus, gab es zwei entscheidende Fehler, Einsichten, von denen ich nicht weiß, ob man sie damals hätte haben können.
Nämlich?
Grobecker: Charly Marx im 19. Jahrhundert war davon überzeugt, man müsse mit der Veränderung des Seins das Bewußtsein verändern. Platt ausgedrückt: Man kann den Menschen umdrehen. Ich glaube, das ist gescheitert.
Das ist eine sehr kulturkonservative Auffassung.
Grobecker: Ja. Ich begreife langsam aber sicher, daß diese Euphorie aus dem 19. Jahrhundert, die sogar zur Spaltung geführt hat, nicht stimmt. Das ist nicht eine Sache, die ich seit Jahrzehnten mit mir herumtrage. Sie fragen ich ja nach der Arbeiterbewegung angesichts der mittleren Katastrophe im Bereich des realen Sozialismus, der nie sozialistisch war. Wie sonst ist diese Lethargie in der Sowjetunion unter diesem stalinistischen Regime zu erklären...
Die zweite Erkenntnis: Ich bin überzeugt davon, daß es in dieser theoretischen Geburt des Sozialismus im vorigen Jahrhundert falsch war und ist, die parlamentarische Demokratie als ein Übergangsstadium anzusehen. Parlamentarische Demokratie muß ein Bestandteil des Sozialismus sein. Dazu gehören selbstverständlich Pressefreiheit, Pluralismus, Meinungsfreiheit... Es tut mir in der Seele leid, daß jetzt das Wort Sozialismus diskreditiert ist.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem osteuropäischen real existierenden Sozialismus, in Anführungstrichen, und der Sozialdemokratie hat Europa doch vor US-Verhältnissen bewahrt..
Grobecker: Das ist eine kühne These. Das, was Sie real existierenden Sozialismus nennen, und ordentlich in Anführungsstrichen, hat 1948, 1949, 1950 dazu geführt, daß Westeuropa konservativ geworden ist und eben nicht sozialdemokratisch.
Verlieren die Gewerkschaften nicht die große Hoffnung auf ein ganz Anderes, die sie für ihren tagtäglichen Kleinkrieg brauchen?
Grobecker: Ich wehre mich erstens gegen den Ausdruck Kleinkrieg. Ich wehre mich gegen diese Arroganz. Und zweitens: Das verbindet uns alle, links von der Mitte, daß man ohne eine Hoffnung, früher nannte man das konkrete Illusion...
... Utopie ...
Grobecker: ... daß man ohne Utopie den täglichen Kampf nicht bewältigen kann.
Und was bleibt für die Arbeiterbewegung?
Grobecker: Den Gewerkschaften ist ihre eigene Organisationsstruktur ein größeres Hemmnis als das Desaster des real exstierenden Sozialismus. Ich finde, daß die Sozialdemokratie in Westeuropa sich so weit entwickelt hat, daß niemand sagen kann: Die haben keine Utopie mehr. Es ist den Kommunisten ein Dorn im Auge, daß wir die Mitbestimmung erfunden haben. Das Betriebsverfassungsgesetz. Die haben die ökologischen Fragen noch gar nicht aufgenommen.
Viele Oppositionelle in der DDR sind enttäuscht über eine SPD, die die SED hofiert hat.
Grobecker: Das stimmt nicht. Wir mußten mit der SED reden, nachdem wir auf der staatlichen Ebene die Fragen in Ordnung gebracht hatten. Die Bewegung, die jetzt entstanden ist, ist unter anderem auch entstanden, weil wir die Normalisierung der staatlichen Ebene zustande gebracht haben.
Die Sozialdemokratie hat immer kokettiert mit dem ganz Anderen: ein Sozialismus, der mehr sein sollte als sozial abgefederter Kapitalismus.
Grobecker: Das ist richtig und das hat sich auch lange gehalten, mindestens bis zum Godesberger Programm. Aber seit Godesberg...
Und Lafontaine segelt nicht auf solchen Wolken?
Grobecker: Nein. Lafontaine ist ein strammer Machtpolitiker, und ich denke schon, daß wir uns mit Macht auch anfreunden müssen.
Int.: K.W.
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