Datenmißbrauch - demnächst streng legal

Die Bonner Koalition versucht mit neuen Geheimdienstgesetzen verfassungswidrigen Datenmißbrauch festzuschreiben / Allen Gesetzentwürfen fehlen präzise Aufgabenbestimmungen / „Nachrichtendienstliche Mittel“ werden pauschal erlaubt, ebenso schrankenloser Datenverbund zwischen Polizei und Geheimdiensten  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

„Denn Nachricht ist alles; im Krieg wie im Frieden, in der Politik wie in der Finanz. Nicht mehr der Terror, sondern nur das Wissen ist 1799 die Macht in Frankreich.„

Stefan Zweig, „Josef Fouche - Bildnis eines politischen Menschen

Auf einer Demonstration gegen die Haftbedingungen politischer Gefangener fällt zwei Beamten des Verfassungsschutzes eine kleine Gruppe von Frauen ins Auge. Die Gruppe nennt sich „Lila Lola“. Sie ist dem Verfassungsschutz bislang unbekannt und deshalb von ihm noch nicht als „extremistisch“ eingestuft worden. Ein paar Monate lang werden die Frauen heimlich beobachtet. Die Verfassungsschützer ermitteln, wer sie sind, wo sie wohnen, was sie arbeiten, welchen politischen Aktivitäten sie nachgehen, wer zu ihrem Freundeskreis zählt. Unter die Lupe nehmen die Geheimdienstler auch den Ehemann einer der Frauen sowie den Freund einer anderen.

Dies nur ein fiktives Beispiel dafür, wie der Verfassungsschutz bisher agieren durfte - und was er, nach dem geplanten neuen Bundesverfassungsschutzgesetz (BverfSchG) weiterhin unternehmen darf. Als eine seiner Aufgaben schreibt nämlich der Paragraph 3 des Gesetzentwurfs die „Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ... gerichtet sind...“, fest. Was eine „Bestrebung“ ist und ob sie auch von einer Einzelperson ausgehen kann, wie die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ definiert wird, ob der Paragraph 3 den Verfassungsschutz sogar ermächtigt, Informationen über solche Bestrebungen zu sammeln und zu speichern, die nicht gegen die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ gerichtet sind - diese und viele andere fragwürdigen Begriffe legt der Verfassungsschutz vorwiegend selbst aus und orientiert sich dabei an politischen Opportunitäten.

„Verfassungswidrig“ kommentierte daher Spiros Simitis, hessischer Beauftragter für den Datenschutz, die völlig unpräzise Aufgabenbestimmung in einem Gutachten zu den geplanten Geheimdienstgesetzen. Er fällte dieses Urteil auch auf einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsinnenausschusses im Juni in Bonn - fast alle seiner anwesenden KollegInnen pflichteten ihm im Kern bei. Unklar bleibt nämlich auch, was Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) werden tun dürfen und was nicht. Arbeitet etwa eine der fiktiven „Lila Lola„-Frauen in einem „Arbeitskreis Frieden“, könnte sie auch schon vom BND erfaßt sein. Dem obliegt nämlich schon jetzt und auch gemäß Paragraph 1 des Entwurfs eines Gesetzes für den Bundesnachrichtendienst (BNDG) unter anderem die „Sammlung und Auswertung von Informationen, die von außen und sicherheitspolitscher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind...“ Unter diese weitausholende Formulierung würden - wie schon bisher - etwa auch Kontakte des Arbeitskreises zu kirchlichen Friedensgruppen in der DDR fallen. Daß der ausschließlich für Auslandsaufklärung zuständige BND seine Aufgaben durchaus auch im innenpolitischen Bereich sieht, hat er schon ein paar Mal deutlich gemacht: Als er den Seweso-Giftfässern nachspürte etwa, oder als er die internationale Zusammenarbeit der „Ärzte für den Frieden“ verfolgte.

Was der Verfassungsschutz im fiktiven Fall über ein anderes Mitglied der „Lila Lola“ erfahren hat, leitet er an den MAD weiter. Zwar ist dieser Geheimdienst auch nach dem Entwurf für ein neues MAD-Gesetz (MADG) wie bisher nur „zur Sicherung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte“ zuständig. Dennoch würde er die Daten der Frau rechtmäßig speichern und verarbeiten: Ein Schwager des „Lila Lola„ -Mitglieds ist nämlich hier als US-Soldat stationiert. Damit fiele die Erfassung der Frau unter die sehr weitgefaßten Maßnahmen „zur Beurteilung der Sicherheitslage von Einrichtungen der verbündeten Streitkräfte“.

II

Die „Lila Lola„-Frauen werden gründlich beobachtet. Der Verfassungsschutz schleust eine V(erbindungs)-Frau in die Gruppe ein. In einigen Wohngemeinschaften installieren die Beamten Wanzen. V-Frau und Wanzen, aber auch Kameras und Richtmikrophone dürften nach den geplanten Geheimdienstgesetzen eingesetzt werden, wenn es sich dabei um „nachrichtendienstliche Mittel“ handelt. Festzulegen, was darunter fällt, überlassen die Entwürfe allerdings internen, nichtöffentlichen Dienstvorschriften. Kontrolliert werden soll der Einsatz dieser Mittel, wie auch die Telefon- und Postüberwachung, vom G10-Ausschuß des Bundestages. Der tagt allerdings nicht öffentlich. Die Grünen dürfen an den Ausschußsitzungen bekanntlich nicht teilnehmen. Was dort besprochen wird, dringt nicht nach außen. „Die Öffentlichkeit darf daher auch weiterhin nur raten, ob die Sprengung eines Loches in eine Gefängnismauer wie 1978 in Celle ein nachrichtendienstliches Mittel ist oder nicht.“

Auf diese mögliche Tragweite der Mittelfreiheit weist das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ in einer Erklärung zu den geplanten Geheimdienstgesetzen hin. Gegen die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts würde die Mittelfreiheit auf jeden Fall verstoßen. Auch die heimliche Informationsbeschaffung, so damals die Richter, sei ein Informationseingriff in die Rechte des Bürgers. Der Eingriff bedürfe einer gesetzlichen Grundlage, “... aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkung klar und für jeden ... erkennbar ergeben...“

III

Die Wohnung einer „Lila Lola„-Frau wird von der Polizei durchsucht. Es soll sich dort ein Türke versteckt halten, dem die Abschiebehaft droht. Bei der Gelegenheit finden die Beamten Flugblätter, die Solidarität mit hungerstreikenden Kurden in der Türkei bekunden. Dies teilen sie dem Verfassungsschutz mit. Der revanchiert sich, indem er der Polizei übermittelt, was die in die „Lila Lola“ eingeschleuste V-Person herausbekommen hat. Die Erkenntnisse über einige der Frauen hatte er zuvor schon BND und MAD mitgeteilt. Wenig später reicht er diesen Diensten außerdem Informationen nach, die er von verschieden anderen Stellen angefordert hatte: Vom städtischen Krankenhaus, in der eine Frau operiert worden war, vom Arbeitsamt, wo drei als arbeitslos gemeldet sind, von der Universitätsbibliothek, die alle Frauen benutzen. Umgekehrt informiert auch der Verfassungsschutz das Arbeitsamt über die mögliche „Verfassungsfeindlichkeit“ der dort gemeldeten Frauen.

Ein solcher schier ungehemmter Datenaustausch war bisher schon auf der Grundlage von Anweisungen und Richtlinien möglich. Die neuen Geheimdienstgesetze erteilen ihm ausdrücklich Absolution. Jedenfalls befristet erlaubt etwa das BVerfSchG Polizei und Geheimdiensten, bei drohenden „erheblichen Beeinträchtigungen der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ ihre Datensysteme miteinander zu verbinden. In weitem Bogen umgangen würde mit dem legalisierten Datenaustausch ein Gebot, das sogar von der herrschenden juristischen Meinung anerkannt wird: Daten sind zweckgebunden - sprich, sie dürfen nicht zu Zwecken erhoben, gespeichert und verarbeitet werden, die außerhalb des Aufgabenfeldes der Stelle liegen, die diese Daten verwendet.

„Massiv verletzt“ durch den kaum begrenzten Datenaustausch sieht Alfred Emmerlich, Rechtsexperte der SPD -Bundestagsfraktion, außerdem das Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten. Die meisten Datenschützer und Rechtsexperten stimmen ihm zu. Durch diese Verletzung des Trennungsgebotes gibt es paktisch keine informationelle Gewaltenteilung mehr. Und der Verfassungsschutz erhält Zugang zu Daten, die mit polizeirechtlichen oder strafprozessualen Mitteln erhoben wurden - er bekommt also Befugnisse an die Hand, die eigentlich der Exekutive vorbehalten sind.

In einem wichtigen Punkt geht die geplante Neuregelung des Datenaustausches sogar noch weiter als die geltende Rechtslage: Bisher ist der Verfassungsschutz auf naive, obrigkeitshörige oder denunziationslüsterne Beschäftigte etwa in Ämtern, Krankenhäusern, Bibliotheken und Versicherungen angewiesen. Sie „dürfen“ Informationen an ihn herausgeben. Er kann aber nicht damit rechnen, regelmäßig und vollständig unterrichtet zu werden. Nach dem neuen Gesetz könnte der Geheimdienst „jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt“, zur Preisgabe von Daten zwingen, und zwar ohne daß er sein Begehren unbedingt begründen müßte. So erhielte der Verfassungsschutz einen rechtlich abgesicherten, systematischen Zugriff auf die Behördendateien. Rasterfahndungen und ähnliche Mittel würden ihm damit noch leichter gemacht.

IV

Die „Lila-Lola„-Frauen vermuten, daß sie beobachtet werden. Sie fragen bei Verfassungsschutz, BND und MAD nach, ob und wenn ja, welche ihrer Daten diese Stellen erhoben, gespeichert und verarbeitet haben. Die Auskunft wird ihnen ohne Begründung verweigert. Die Beamten könnten auch nach dem geplanten Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) auf dessen Paragraph 17 verweisen, der die Geheimdienste von der Auskunftspflicht entbindet.

Selbst der von den „Lila-Lola„-Frauen zur Hilfe gerufene Bundesbeauftragte für den Datenschutz würde nicht viel auszurichten vermögen: Paragraph 17 Absatz 5 BDSG, der die datenschutzrechtlichen Pflichten der Geheimdienste regelt, bestimmt zwar, daß ihm die Auskunft erteilt werden muß allerdings nur die Auskunft über in Dateien gespeicherte Daten. Daten in konventionellen Akten zählen nicht dazu, obwohl der Verfassungsschutz gerade dort die meisten Informationen archiviert. Dateien sind oft nur Hinweissystheme auf in Akten erfaßte Daten.

Nach Paragraph 17 darf der Datenschutzbeauftragte dem Betroffen allerdings auch nicht mitteilen, was die elektronischen Dateien im Sinne dieses Gesetzes von ihm erfaßt haben. „Die Befürchtung, daß die Geheimdienste unter Legitimationsdruck geraten könnten, in dessen Gefolge sie zwar nicht die verweigerten Daten selbst preisgeben müßten, aber doch von ihnen insbesondere im Gerichtsverfahren erwartetet würde, ihre Weigerung und die Gründe dafür zumindest erahnbar werden zu lassen“, so formuliert die Zeitschrift 'cilip, Bürgerrechte und Polizei‘, was hinter dieser äußerst restriktiven Regelung der Auskunftspflichten von Geheimdiensten steckt.

Zwar hätten die „Lila Lola„-Frauen nach den geplanten Geheimdienstgesetzen einen Anspruch darauf, daß falsche Daten berichtigt und nicht erforderliche gelöscht würden allerdings nur, soweit die Daten maschinell erfaßt wären. Überdies würde die Löschung allein den Diensten selbst übertragen. Und schließlich scheint der Anspruch auf Korrektur und Löschung von Daten, die die Betroffenen selbst nicht kennen, das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ eher zu verhöhnen, hatte doch selbst das Bundesverfassungsgericht bestimmt, daß mit diesem Recht keine Gesellschaftsordnung vereinbar wäre, „in der Bürger nicht mehr wissen, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß“.

„Die geplanten Auskunftsrechte bleiben sogar hinter dem derzeitigen Recht und der Praxis zurück“, befand Ruth Leuze, baden-württembergische Datenschutzbeauftragte, in einem Gutachten. Die meisten Geheimdienstler widersprachen dem auf der Anhörung im Juni in Bonn. Ihnen gehen selbst die datenschutzrechtlichen Bestimmungen dieser Entwürfe noch zu weit.

V

„Massiver Angriff auf den Rechtsstaat, der die Thesen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts in ihr Gegenteil verkehrt.“ So haben die in der ÖTV organisierten Richter, Staatsanwälte und Verfassungsschützer die geplanten Geheimdienstgesetze bezeichnet. Fast alle Datenschützer erklären wesentliche Punkte der Entwürfe als unvereinbar mit dem Grundgesetz. Das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ ruft zu breitem, organisiertem Widerstand gegen diese „erneute Gefährdung auf dem Weg zur restlosen geheimdienstlichen Erfassung“ auf. Dennoch wird die Regierungskoalition in Bonn versuchen, die Gesetzentwürfe so schnell und mit so wenigen Abstrichen wie möglich in geltendes Recht umzuwandeln. Und für diese Eile hat sie, aus ihrer Sicht, gute Gründe. Denn nach fast einhelliger Meinung in der juristischen Literatur läuft der vom Verfassungsgericht 1983 zugestandene „Übergangsbonus“ von der Verkündung des Volkszählungsurteils bis zur darin geforderten gesetzlichen Regelung datenschutzrechtlicher Belange demnächst ab. Vor allem aber würden die Geheimdienstgesetze dem Staat die Arbeit erleichtern: Indem sie legalisieren, was heute schon gang und gäbe ist; indem sie garantieren, daß jenen, die politischen Widerstand gegen Rüstung, Ausbeutung, Umweltzerstörung oder Verletzung demokratischer Rechte leisten, die Arbeit noch ein Stück weiter erschwert wird; indem sie ein System stabilisieren, das Risikovorsorge um fast jeden Preis anstrebt.