Partei vor dem Schattensprung?

Mit taktischen Zugeständnissen bringt sich die SED nur weiter in die Defensive  ■ K O M M E N T A R E

Als Exponent des alten Regimes, als Protege seines starren Vorgängers leistet sich Egon Krenz zweifellos einen fulminanten Auftakt. Da mutet der Mann seinem ohnehin desillusionierten Publikum eine Antrittsrede zu, die zwar im Ton neuen Stil, doch in den wesentlichen Reformfragen Unnachgiebigkeit signalisiert, um dann am nächsten Tag den Dialog zu eröffnen: mit diesmal nicht-ausgesuchten Arbeitern vor der Kamera, mit Landesbischof Leich und dem Geschäftsführer der oppositionellen Sozialdemokraten. Der allerdings lehnt ab. Die 'Junge Welt‘ titelt noch etwas ungelenk: „Was denkst du? Laß hören! Tun wir was!“ und das 'Neue Deutschland‘ wundert sich nur noch über das, „was vor 14 Tagen noch undenkbar“ war.

Glaubt Krenz - so muß man fragen -, daß er sich mit seinen ersten Schritten noch im Rahmen der durch die jüngste Krise notwendig gewordenen flexiblen response-Strategie bewegt, oder propagiert er bereits die Reform? Geplant war doch, mit dem schnellen Abgang Honeckers, flankiert durch moderate Reformsignale, die Situation soweit zu beruhigen, daß am Ende die Grundstruktur des System unangetastet bliebe. Flexibilität - so hieß die Parole - bis zu der Grenze, hinter der das Machtmonopol der Partei in Frage steht.

Noch ist die Grenze nicht neu definiert. Doch die Entwicklung der letzten Tage und die als Gegenstrategie gedachten Lockerungen entwickeln eine Eigendynamik, die die Widersprüche in der Partei aufbricht und sich zugleich der Kontrolle von oben entzieht. Für die Forcierung des parteiinternen Flügelkampfs stehen Modrows öffentliches Eintreten für tiefgreifenden Reformen nach sowjetischem Vorbild ebenso wie Verhandlungsbereitschaft von SED -Funktionären auf Bezirksebene. Der Verlust der gesellschaftlichen Kontrolle, mit den Demonstrationen der letzten Wochen schon offenkundig, wird mit der Öffnung der Massenmedien weiter vorangetrieben. Das gilt auch dann, wenn die partielle Liberalisierung im Kalkül der Partei nur eine von oben gesteuerte Ventilrolle spielen sollte. Sie tangiert die Struktur kontrollierter Öffentlichkeit und damit eine der wesentlichen Stützpfeiler des alten Systems. Die propagierte Diskussion über „Vorschläge und Hemmnisse“ wird sich - das zeigen die sowjetischen Erfahrungen - nicht lange auf partei-definierte Zonen der Kritik eingrenzen lassen. Schnell wird die Partei alten Typs selbst als das zentrale Hemmnnis der gesellschaftlichen und politischen Reform zur Diskussion stehen.

Auch eine weniger verknöcherte Führung wäre mit der Aufgabe überfordert gewesen, den gesellschaftlichen Aufbruch der letzten Wochen mit einer Gegenstrategie zu brechen, die die Führungsrolle der Partei nicht tangiert. Zu lange hat die SED gewartet, um sich jetzt so billig aus der Affäre ziehen zu können. Krenz‘ Versuch, es mit moderaten Konzessionen dennoch zu versuchen, ist zum Scheitern verurteilt. Der Legitimationsverlust der Partei ist so umfassend, daß er durch jedes taktische Zugeständnis nur weiter vergrößert wird. Unterhalb der Reformoffensive geht in Ost-Berlin nichts mehr.

Matthias Geis