: Ein Mann, drei Ämter und das Volk
■ Die DDR-Volkskammer wählte Egon Krenz, das Volk zu Hunderttausenden die Straße
Die Volkskammer wählte Egon Krenz zum Staatschef. Bei seiner Wahl gab es Gegenstimmen. Krenz erklärte sich in seiner Rede für einen moderaten Reformkurs. In Leipzig demonstrierte eine Viertelmillion Mißtrauen gegen die Staatsmacht, und in Schwerin versuchte die SED, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.
Horst Sindermann, der greise Präsident der Volkskammer, war sichtlich überfordert. Eben hatte er noch, „wie parlamentarisch üblich“, die Tagesordnung absegnen lassen und war bei Punkt 1 angelangt, da unterlief ihm ein Schnitzer: Er übersah die vereinzelten Stimmenthaltungen bei der Abwahl Honeckers, der „aus gesundheitlichen Gründen“ nicht anwesend war. Das geschah sicher nicht aus bösem Willen, denn Sindermann dankte seinem alten Mitstreiter, „den unbeugsamen Widerstandskämpfer gegen Krieg und Faschismus“, ausdrücklich. Keine Dankesworte erhielt dagegen Günter Mittag, der mit steinernem Gesicht dabeisaß, als er als stellvertretender Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender eines Volkskammerausschusses auch mit seiner eigenen Stimme gefeuert wurde.
Das weitere Abstimmungsritual folgte dann zwar in der Dramaturgie dem üblichen Muster, doch dann geschah etwas in der 40jährigen Geschichte der Volkskammer bisher Einmaliges: Bei der Wahl von Generalsekretär Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden gab es zwar keine Wortmeldungen, wohl aber Gegenstimmen und Enthaltungen. Von den 500 Abgeordneten votierten in offener Abstimmung 26 gegen Krenz, weitere 26 enthielten sich der Stimme. Der Volkskammerpräsident, darauf sichtlich nicht vorbereitet, kam beim Zählen durcheinander, wandte sich hilfesuchend an seinen Nachbarn: „Zähl mal mit hier!“ Er versprach: „Ich werde das Ergebnis nicht verfälschen.“
Die Gegenstimmen sollen vor allem aus den Reihen der Liberalen und der CDU gekommen sein, doch auch einzelne SEDler sollen gegen ihren Generalsekretär gestimmt haben. Das gleiche wiederholte sich bei der Wahl von Krenz zum Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates. Hier gab es 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen. In seiner Antrittsrede kommentierte Krenz dieses Novum als „begrüßenswertes Zeichen für das neue Selbstbewußtsein dieses Hauses“.
Soweit reichte dieses Selbstbewußtsein allerdings nicht, daß offen kritisiert worden wäre, daß nur ein Kandidat zur Wahl stand. Im Vorfeld hatten Leipziger Mitglieder des Neuen Forums und die Pfarrer Eppelmann und Schorlemer in einem offenen Brief an alle in der Volkskammer vertretenen Parteien gefordert, als Gegenkandidaten den Vorsitzenden der Liberaldemokraten, Manfred Gerlach, aufzustellen, der sich als erster führender DDR-Politiker in der vergangenen Woche kritisch nach vorne gewagt hatte.
Egon Krenz versuchte in seiner Antrittsrede als Staatsratsvorsitzender sichtlich, den ungünstigen Eindruck, den seine Fernsehansprache am 18. Oktober hervorgerufen hatte, zu korrigieren. Das gelang ihm. Es war keine große Rede, aber doch souverän vorgetragen und den aktuellen Problemen nicht länger ausweichend. Die Rede war auch, im Unterschied zu der vorangegangenen, kein offenkundiges Kompromißprodukt mehr. Die konservativen Schlenker fehlten.
Zu den Demonstrationen, die die Wende erst erzwungen hatten und auf die noch eine Woche zuvor mit dem Begriff „konterrevolutionäre Attacken“ angespielt worden war, bemerkte er jetzt, sie „mögen ihre Funktion gehabt haben“. Zugleich warnte er davor, sie fortzusetzen - das jedoch in einer Sprache, die auch von einem Kirchenmann hätte stammen können: „Demonstrationen, so friedlich sie gedacht und angelegt seien mögen, tragen in dieser Zeit immer die Gefahr in sich, anders zu enden, als sie begonnen haben.“
Das Geschehen, das in den letzten Wochen die größte Empörung ausgelöst hatte, die Repressionswelle vom 7. bis zum 9. Oktober, erwähnte er mit dem „Bedauern“, daß es zu „Härten“ gekommen sei. „Ungerecht oder unwürdig Behandelte“ sollten alle rechtlichen Möglichkeiten erhalten, gegen die dafür Verantwortlichen vorzugehen. Dabei wurde aus der Argumentation freilich auch deutlich, daß die Verantwortung ganz auf den einzelnen Polizisten abgeschoben werden soll. Der Generalstaatsanwalt sei aufgefordert worden, über die Ereignisse einen Bericht zu erstellen, der veröffentlicht werden wird. Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates werde noch heute einen Ausschußbericht vorlegen.
An die Ausreisewilligen wurde ohne jede Häme appelliert, in der DDR zu bleiben: „Jeder, der uns verläßt, ist einer zuviel.“ In diesem Zusammenhang kündigte Krenz an, daß die unterschiedliche Behandlung von Ausreisewilligen, die den Weg über die bundesdeutschen Botschaften gesucht hatten, und denjenigen, die in der DDR festsaßen, beendet werden würde. Damit nahm er eine Forderung auf, die vor allem Rechtsanwalt Vogel in den letzten Tagen vorgetragen hatte. Es war die erste Stelle in seiner Rede, die mit heftigem Beifall bedacht wurde.
Die Vorschläge zu einer „Erneuerung der Gesellschaft“ auf „festem sozialistischem Fundament“ blieben eher unbestimmt. Immerhin ist die Orientierung wieder klarer, denn künftig gilt, daß die „Erfahrungen der sowjetischen Freunde“ und anderer sozialistischer Länder „sorgsamer zu prüfen“ sind. Als Reformbereiche nannte Krenz die Vorbereitung der Wahlen 1991, bei der Erfahrungen aus früheren Wahlen und Argumente in Eingaben kritischer Bürger (die sich gegen die offenkundigen Wahlfälschungen im Mai 1989 richteten - die Krenz nicht erwähnte) zu verarbeiten seien. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in der DDR „gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen“ genannt, soll auf neue Bereiche ausgedehnt werden.
Der „neue demokratische Geist“ müsse sich schließlich auch in der Arbeit der Volkskammer widerspiegeln. Deshalb sollen Ministerien und Generalstaatsanwalt künftig regelmäßig im Plenum berichten. Auch sollten dort unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen. Die Arbeit der Ausschüsse wird aufgewertet werden. Ein neuer Ausschuß für Umweltschutz wird eingerichtet, der überdimensionale Ausschuß für Industrie, Bauwesen und Verkehr, dem bisher Mittag vorsaß, aufgegliedert werden. Ähnliche Erklärungen des guten Willens wurden den örtlichen Volksvertretungen gewidmet, die mehr materielle und finanzielle Mittel erhalten sollen. Insgesamt sind die Konturen künftiger Reformpolitik selbst noch vage. Doch der Wille, tatsächlich eine Wende einzuleiten, ist erkennbar.
Walter Süß
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