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„Egon Krenz - keine Lizenz!“

■ Gestern neue Demo in Ost-Berlin nach der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden / Hunderttausende waren am Montag auf der Straße / Volkskammer erklärt, daß Egon Krenz den Einsatzbefehl zu Ostberliner Polizeieinsatz gab, und bestätigt Polizeiübergriffe

Berlin (taz/dpa) - Demonstrationsfieber schüttelt die gesamte DDR. Nur Stunden nach der Wahl von Egon Krenz zum Staatsoberhaupt der DDR demonstrierten am Dienstag abend weit über 5 000 Menschen in Ost-Berlin gegen dessen Kür zum Häuptling der Republik. „Freie Wahlen - Volksentscheid“ und „Egon Krenz - keine Lizenz!“ waren ihre Parolen. Die Polizei, die den Zugang zum Polizeipräsidium abgeriegelt hatte, wurde mit Rufen wie „Zieht euch um, schließt euch an!“ bedacht. Alles blieb friedlich.

Bereits am Montag abend demonstrierten Hunderttausende in Leipzig, Dresden, Schwerin, Eisenach, Halle, Magdeburg, Zwickau, Stralsund und Ost-Berlin. „Egon, deine Wahl nicht zählt - dich hat das Volk nicht gewählt“ hieß es auf einem Leipziger Transparent, das die Stimmung auf den Punkt brachte. Kaum noch zu zählen die TeilnehmerInnen der Leipziger Demonstration im Anschluß an die traditionellen Friedensgebete in sechs Kirchen. Schätzungen bewegen sich zwischen 200.000 und 300.000 Personen. Tausende von Kerzen vor dem Stasi-Gebäude, Hunderte von Sprechchören und Transparenten - im Mittelpunkt des Protestes stand die Partei- und Staatsführung. Beispiele der oft liebevoll gemalten Transparente: „Die führende Rolle dem Volk“, „SED tut weh“. In Dresden standen SED-Bezirkssekretär Hans Modrow und Oberbürgermeister Walter Berghofer 50.000 Demonstranten angeblich Rede und Antwort. Daraufhin befiel das DDR -Fernsehen die alte Krankheit der selektiven Wahrnehmung keine Silbe, kein Bild von Sprechchören und Transparenten.

Vergeblich indes alle Proteste: Nur mit 52 Enthaltungen und Gegenstimmen wählte die Volkskammer Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und setzte damit die Tradition der Ämterhäufung fort. In seiner Rede machte Krenz (52) deutlich, daß sich in der SED-Spitze die Einsicht durchgesetzt hat, eine refomerische Wende sei unvermeidlich. Vor weiteren Demonstrationen warnte Krenz (siehe Seite 3).

Erstmals wurden gestern Übergriffe von DDR -Sicherheitskräften gegenüber friedlichen Demonstranten und Unbeteiligten offiziell zugegeben. In einer auf Beschluß des DDR-Staatsrates am Dienstag veröffentlichten Erklärung zu den Demonstrationen der letzten Wochen wird darauf hingewiesen, daß die Sicherheitskräfte aufgrund eines Befehles des Nationalen Verteidigungsrates handelten, der von Egon Krenz vorbereitet und vorgeschlagen wurde. Der Einsatz der Schußwaffe sei darin grundsätzlich verboten worden.

In der gemeinsamen Erklärung der Vorsitzenden des Volkskammerausschusses für Nationale Verteidigung, Wolfgang Herger, und des Verfassungs- und Rechtsausschusses der Volks -kammer, Wolfgang Weigelt, heißt es im einzelnen, bei den polizeilichen Einsätzen in Dresden, Leipzig und Berlin während der „Ausschreitungen“ am 7. und 8. Oktober zum DDR -Jubiläum seien leider „auch Unbeteiligte zu Schaden gekommen“. „Gegenüber Zugeführten habe es Befugnisüberschreitungen und nicht rechtmäßige Handlungen durch Angehörige der Schutz- und Sicherheitsorgane gegeben.“ In Ost-Berlin habe die „sogenannte Demonstration“ mit dem Ruf „Auf zum Brandenburger Tor“ begonnen. Nach „Aufklärungsergebnissen“ hätten die Verantwortlichen das „als Aufforderung zu einem massenhaften gewaltsamen Grenzdurchbruch“ aufgefaßt.

83 Anzeigen und Mitteilungen würden gegenwärtig geprüft. Bisher seien vier Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

peb/ws Siehe auch Berlin-Teil

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