Seveso - jetzt gleich nebenan

■ Weit überhöhte Dioxinwerte wurden in der DDR-Deponie Schöneiche ermittelt / Die Sondermüllverbrennungsanlage entpuppt sich nun auch als „Dioxinschleuder“ / Umweltbehörde: Die Anlage ist „falsch konzipiert“ / Neue Filter reichen nicht aus

Wenn Senator Horst Wagner (SPD) heute im Abgeordnetenhaus auf Anfragen antwortet, die die überhöhten Quecksilbermissionen der Sondermüllverbrennungsanlage (SVA) Schöneiche betreffen, dann wird er sich auf einige Zusatzfragen gefaßt machen müssen: Fragen nach dem Dioxin, das die Schornsteine der kürzlich von den DDR-Behörden stillgelegten Anlage verläßt. Der TÜV Berlin hat bei Abnahmemessungen nämlich Werte dieses Ultragiftes ermittelt, die so hoch sind, daß die 20 Kilometer südlich von Berlin in der DDR gelegene Anlage mit Fug und Recht als Dioxinschleuder bezeichnet werden darf.

Referatsleiter Joachim Gribach, in Wagners Verwaltung für Schöneiche zuständig, bestätigte gestern Meßergebnisse aus dem TÜV-Gutachten, die der taz zugespielt worden waren. Danach enthielt das Rauchgas der SVA Schöneiche bei den letzten Messungen im August pro Kubikmeter zwischen 3,2 und 5,5 Nanogramm (Billionstel Gramm) an TCDD-Äquivalenten. Die Kategorie „TCDD-Äquivalente“ verwenden Chemiker, um die Gesamtmenge der verschiedenen Dioxinisomere zu beschreiben, umgerechnet auf die Giftigkeit des besonders gefährlichen Seveso-Dioxins 2,3,7,8-TCDD. Die in Schöneiche ermittelten Werte liegen um das Mehrfache über den Grenzwerten von 0,1 Nanogramm, die in Schweden und Österreich gelten. In Deutschland gibt es zur Zeit noch kein verbindliches Dioxinlimit; Experten in Bonn diskutieren jedoch einen Wert von einem Nanogramm. Die moderne Sondermüllverbrennungsanlage im hessischen Biebesheim bringt es jedoch immerhin auf Werte um 0,2 Nanogramm.

Die Augustwerte ermittelte der TÜV während der Phase des sogenannten „Leistungsnachweises“ in Schöneiche. Die SVA wurde so gefahren, wie es für den geplanten Normalbetrieb vorgesehen ist. Als der Giftmüllofen im März und April im Probebetrieb stand und unter unterschiedlichsten Bedingungen durchgecheckt wurde, mußten die TÜV-Gutachter zum Teil weit höhere Dioxinwerte registrieren. Der Wert für TCDD -Äquivalente stieg einmal auf bis zu 15,1 Nanogramm. Eine erschreckende Spitze erreichten damals auch die Werte, die im TÜV-Meßprotokoll für das Ultragift 2,3,7,8-TCDD allein notiert wurden: Der Wert kletterte einmal auf 0,53 Nanogramm. Damit erreichte das Seveso-Gift allein das fünffache dessen, was in Schweden für alle Dioxinisomere zusammengenommen erlaubt ist. Das sei „in der Tat nicht sehr befriedigend“, zitierte Gribach gestern den TÜV-Gutachter. Was die Sache schlimmer macht: Der Gutachter konnte nicht einmal die Ursache dieses hohen Wertes klar definieren. Es „könnte“ an Temperaturschwankungen bei der Verbrennung liegen, formulierte er vorsichtig.

Der alte Senat hatte stets beteuert, die mindestens 70 Millionen Mark teure SVA entspreche dem „Stand der Technik“. Thomas Schwilling, Referent von AL-Umweltsenatorin Schreyer, zog gestern andere Folgerungen: Die Anlage sei „falsch konzipiert“ und müsse umgebaut werden. Eine Umrüstung der Filter reiche angesichts dieser Dioxinwerte „keinesfalls aus“.

hmt