: Sparpolitik beim Bafög traf Arbeiterkinder
■ Ein zorniger Rückblick auf die Reformpolitik der christlich-liberalen Koalition
Die Sparpolitik beim Bafög hat seit 1983 vor allem Arbeiterkinder und Einkommensschwache vom Studium abgeschreckt. Von 100 Beamtenkindern besuchen heute 49 eine Hochschule, von 100 Arbeiterkindern sind dies nur acht. Dies geht aus der neuen 12.Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (DSW) hervor. Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann (FDP) kündigte am 3.Oktober vor der Presse in Bonn als „praktische Schlußfolgerung“ eine „notwendige Korrektur“ der Ausbildungsförderung für Studenten an.
Während die Bereitschaft zum Hochschulbesuch fast aller anderen sozialen Gruppen insgesamt gestiegen ist, liegt die Studierquote der Arbeiterkinder mit 8,3 Prozent heute noch unter dem Wert von 1982 (8,7 Prozent). Von 100 Kindern der Selbständigen studieren heute 36, von 100 Kindern aus Angestelltenfamilien 32.
Die Veränderungen bei der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft werden auch in einem weiteren Punkt der Sozialerhebung deutlich: Der Anteil der Studierenden aus der niedrigen sozialen Herkunftsgruppe (Arbeiter, ausführende Angestellte und Beamte des einfachen und mittleren Dienstes) an allen Studierenden nahm von 1982 auf 1988 deutlich ab, und zwar von 23 Prozent auf 18 Prozent (1985: 20 Prozent), während der Anteil der Studierenden aus der hohen sozialen Herkunftsgruppe (große Selbständige/Angestellte in gehobener Position, Beamte des höheren Dienstes und mittlere Selbständige mit Hochschulausbildung) sich genau gegenteilig entwickelte, nämlich von 18 auf 23 Prozent.
Möllemann sagte, mit der von ihm angestreben Bafög-Reform könnten künftig zusätzlich 70.000 bedürftige Studenten Geld erhalten. Gleichzeitig solle das Bafög nicht mehr voll, sondern nur noch zur Hälfte als Darlehen gezahlt werden. Die generelle Wiedereinführung des Schüler-Bafögs lehne er jedoch aus „ordnungspolitischen Gründen ab“. Eltern sollten im Regelfall für den Schulbesuch ihrer Kinder selbst aufkommen.
Studentenwerkspräsident Albert von Mutius forderte Möllemann auf, im Sinne der „Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft“ diese Entscheidung noch einmal zu überdenken. Eine bessere Förderung schon in der Schulzeit ab Klasse elf würde den Eltern die Entscheidung zum Studium erleichern. Betroffen sind rund 200.000 Kinder aus bedürftigen Familien. Die Kosten werden dafür auf rund 200 Millionen Mark geschätzt.
Aus der neuen Sozialerhebung wird deutlich, daß die Einkommensunterschiede unter den knapp 1,5 Millionen eingeschriebenen Studenten in den vergangen Jahren erheblich krasser geworden sind. Fast jeder fünfte Student (19 Prozent) hat mehr als 1.200 Mark im Monat, neun Prozent bekommen sogar mehr als 1.400 Mark. 15 Prozent der nicht bei den Eltern lebenden Studenten müssen dagegen mit einem Betrag von unter 700 Mark auskommen.
Der hohe Anteil einkommensstarker Studenten verzerrt das Bild vom „statistischen Normalstudenten“. Dieser verfügt über ein Einkommen von 1.002 Mark monatlich. Die Sozialerhebung macht aber deutlich, daß 68 Prozent der Studierenden dieses rechnerische Durchschnittseinkommen nicht erreichen. 1985 lag dieses Durchschnittseinkommen noch bei 895 Mark, die Steigerung um 12 Prozent wird vor allem mit der Zunahme der Erwerbstätigkeit während des Studiums erklärt.
Der ledige Student im Erststudium, der nicht mehr bei den Eltern wohnt - also der Normalstudent -, hatte zum Zeitpunkt der Erhebung (Sommer 1988) mit durchschnittlich 951 Mark pro Monat um rund zehn Prozent höhere Ausgaben als der Normalstudent 1985 (863 Mark). Ein Drittel dieses Geldes wird durchschnittlich für Miete und Heizung benötigt, 23 Prozent für Ernährung, zehn Prozent für Fahrtkosten einschließlich Auto.
Möllemann sagte zur Einkommenssituation, trotz der nicht immer „durchgehend heiteren“ Wirtschaftslage der Studenten nähere sich ihre Lebenssituation in Anspruch und Wirklichkeit „mehr und mehr dem gestiegenen Lebensstandard der Allgemeinheit an“. Studentsein sei, bei allen Besonderheiten dieser Lebensphase, heute kaum noch zu vergleichen mit der Studiensituation vor 25 Jahren.
Immer mehr Studenten jobben auch während des laufenden Semesters, nämlich 54 Prozent. 1982 hatte dieser Anteil noch 39 Prozent betragen. Erwerbstätige Studenten wenden für diese Arbeit durchschnittlich zwölf Stunden in einer Semesterwoche auf.
Finanzierten 1982 erst die Hälfte der Studierenden ihr Studium ganz oder teilweise durch Werkarbeit, so sind dies heute 62 Prozent. Nur ein Fünftel der erwerbstätigen Studenten gab an, zu arbeiten, um sich etwas „über den normalen Lebensunterhalt hinaus“, wie Hobbies oder Reisen, erlauben zu können. Ältere Studenten arbeiten vor allem, um sich eine bessere Wohnung leisten zu können.
Nur elf Prozent der Studenten haben gegenwärtig die Chance, in einem mit öffentlichen Mitteln geförderten Wohnheim zu leben. Der Wunsch nach einer solchen preiswerten Bude (durchschnittlicher Mietpreis unter 200 Mark) ist allerdings mit 22 Prozent doppelt so hoch wie das Angebot. Das Studentenwerk forderte dazu ein Ausbau- und Modernisierungsprogramm für 100.000 Wohnheimplätze.
Sechs Prozent der Studenten heute, so ergab die Umfrage weiter, haben Kinder, mehr als die Hälfte davon ist jünger als vier Jahre. Jede dritte betroffene studentische Familie sucht vergebens nach einer Betreuungseinrichtung in Hochschulnähe. Dafür wären 20.000 Krippenplätze nötig.
Möllemann meinte, für den Bildungsbereich seien in den nächsten fünf Jahren zweistellige Steigerungsraten beim Haushalt notwendig, um alles, was gegenwärtig als erforderlich anerkannt sei, in Handeln umzusetzen. DSW -Präsident von Mutius sagte, Sonderprogramme für Forschung und Lehre reichten allein nicht aus, um die Situation der Hochschulen zu verbessern. Dazu gehörten auch Investitionen in die Infrastruktur, wie Sozialeinrichtungen und Mensen, ebenso auch die überfällige Beseitigung von Barrieren für behinderte Studenten.
Frauen haben der Sozialerhebung zufolge in den vergangenen Jahren häufiger auf ein Studium verzichtet als junge Männer. Dies wird selbst bei den studierfreudigen Beamtenkindern deutlich. Dort studieren 56 Prozent der Söhne, aber nur knapp 42 Prozent der Töchter.
Seit 1981 ist der Frauenanteil an den Studierenden insgesamt unverändert bei etwa 38 Prozent geblieben. Während zu Beginn der siebziger Jahre die Abiturientinnen fast ebenso häufig ein Studium aufgenommen hatten wie die Abiturienten, hat ihre Studierneigung seitdem deutlich abgenommen. Dies gilt insbesondere für die Studienaufnahme an Universitäten, wohingegen das Fachhochschulstudium für Frauen nicht an Attraktivität eingebüßt hat. Da der Frauenanteil an den Studienberechtigten gleichzeitig ständig gestiegen ist, hat sich die rückläufige Studierneigung noch nicht auf das Geschlechterverhältnis an den Hochschulen ausgewirkt.
Auch bei der Studienfachwahl spiegeln sich nach wie vor Geschlecht und Herkunft wider. Die Rechtswissenschaften wiesen mit 51 Prozent den höchsten Anteil an Akademikertöchtern unter den Studienanfängern aus. An den Fachhochschulen gibt es den höchsten Arbeiterkinderanteil im Studienbereich Sozialwesen.
Der Schuldenberg der Studenten aus der Bafög -Darlehensförderung ist mittlerweile auf fast 15 Milliarden Mark angestiegen. Seit 1983 wird Bafög nur noch als Volldarlehen gezahlt. Die Förderquote ist im letzten Jahr erneut abgesunken, und zwar auf 22,6 Prozent gegenüber 37,1 Prozent 1982.
Die repräsentative Untersuchung zur sozialen Lage der Studenten wird seit 1951 vom Studentenwerk alle drei Jahre vorgenommen. Dafür befragte das in Hannover ansässige Hochschul-Informations-System (HIS) knapp 21.000 Studenten.
dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen