: Fürs Philosophieren gibt's keine Westmark
■ Immanuel Kant aus Königsberg - multikulturell mitten drin auf dem Polenmarkt, zwischen M-Bahn und Landwehrkanal, Wodka, Kristallschüsseln und Ami-Zigaretten, zwischen Touristen, Festgenommenen, Hütchen-Spielern, Polizisten, Händlern und Käufern
So einfach ist die Philosophie nicht unter das Volk zu bringen - schon gar nicht unter das handeltreibende. Die drei MitarbeiterInnen der „Philosophischen Praxis“, die ihre Plakatwand mitten auf dem Markt aufgestellt haben, werden mit ihren Flugblättern von den umstehenden Händlern und Kunden beäugt wie andernorts Zeugen Jehovas mit ihrem „Wachturm“. Keiner wagt sich näher als fünf Meter an das Plakat heran. Nach zwei Stunden pirschen sich die ersten heran - von hinten. Ob er seine Waren an der Rückwand aufhängen könne, fragt einer.
Alexander Dill und Helma Schäfer verteilen Kants Aufklärungsschrift in deutscher und Flugblätter mit Zitaten und Informationen über ihre Aktion in polnischer Sprache. Die Aufklärungsschrift verstehen die drei als einen „wesentlichen Beitrag zur geistigen Verständigung der Kulturen“. Sie wollen die Diskussion auf die Straße verlegen - eine neue Kultur des philosophischen Dialogs, die für jeden zugänglich ist. Um über das alles beherrschende Thema, den politischen Wandel in Osteuropa zu diskutieren, haben sie sich den Polenmarkt ausgesucht. Der Ort, wo sich der Wandel am sichtbarsten manifestiert, ist längst touristischer Leckerbissen: sich einmal über den Polenmarkt schieben lassen, eine Flasche Wodka als Souvenir und zum Abschluß gratis Magnetbahn fahren - das hat nicht einmal New York zu bieten.
„Ich dachte, Sie kommen von der Scientology-Sekte“, argwöhnt ein Amerikaner, bevor er sich weltmännisch die Aufklärungsschrift in die Tasche steckt. Bei vielen wecken vier Seiten, eng bedruckt, nicht unmittelbar Lust am philosophischen Dialog inmitten von Dönerständen, Kleinhändlern und Hütchen-Spielern. Doch je näher die Händler rücken, je mehr sie ihre Waren auf Zeitungs- und Plastikunterlagen ausbreiten, desto schneller schrumpft der Respekt. Einer bricht schließlich das Eis, packt seinen Koffer neben die Stellwand und drapiert seine Waren. Ein kurzer unsicherer Blick - nein, keiner will ihn vertreiben. Die Grüppchen vor dem Plakat werden dichter und gesprächiger. Wer philosophiert, verdient kein Geld, also bleibt der Dialog den Besuchern und Touristen vorbehalten. Man debattiert über die Situation in Polen und der DDR, über die Angst der Deutschen vor dem Schmutz. Jean-Pierre, Franzose auf Dauerbesuch in Berlin, hat die Auseinandersetzungen um den letzten Standort des Polenmarktes im Mendelsohn-Bartholdy-Park erlebt. „Der Schmutz als Beweis, daß die Polen dreckig sind - sowas treibt die Deutschen auf die Straße.“
„Ein bißchen exotisch und abenteuerlich“ sei der Polenmarkt, sagt eine polnische Bauzeichnerin, die mit Familie vor acht Jahren emigriert sind. „Exotisch nur für die Deutschen“, fügt sie hinzu. „Das ist eine verlorene Generation, all die jungen Leute, die ihre ganze Energie nur noch in den Schwarzmarkt stecken.“ Maschinen und westliche Technologie brauche das Land jetzt sofort, um wieder auf die Beine zu kommen. „Wenn der Westen nur beobachtet und klatscht, dann geht bald alles kaputt.“
Zwei junge Männer bleiben vor dem Plakat kurz stehen, verstehen weder den deutschen Text, noch die polnische Übersetzung, die angeklebt ist. Kurzes Feixen - dann schlängeln sie sich weiter durch die Menge, bis sie eine kleine Lücke zwischen den Händlerreihen entdecken. Der eine zieht eine Teppichfliese aus der Jacke, legt sie in den Staub. Signal für die Umstehenden, die sofort einen Kreis bilden. „Okay, Einsatz, Einsatz, einhundert Mark“, ruft er und läßt drei Schächtelchen kreisen. Wer auf die richtige Schachtel tippt, unter der die weiße Kugel steckt, gewinnt. Innerhalb von fünf Minuten sind drei Leute ihren Hunderter los. Über Lautsprecher kommt gleichzeitig ständig auf polnisch die Durchsage, daß das Hütchenspiel illegal ist.
„Handeln und philosphieren - das ist ein bißchen kompliziert“, konstatiert Annie, Französin, die seit zehn Jahren in Berlin lebt. Prinzipiell ist sie von der Idee begeistert, weil „sich die meisten Leute ihre Meinung nur zu Hause bilden“. All die „Linken“ zum Beispiel, die sich herablassend und verächtlich über Aus- und Übersiedler hermachen oder „von den Polen jetzt auf einmal verlangen, stillzuhalten und sich mit ihrer Regierung zu identifizieren. Das würden sie von sich selbst auch nie verlangen.“ Über die Befürchtung der Behörden vor dem Markt als ungeordnetes, illegales Chaos kann sie sich stundenlang amüsieren. „Die stehen hier so ordentlich in einer Reihe das ist fast schon deutsch.“
„Kant? Who is Kant?“ Eine Besuchergruppe aus der Volksrepublik China begutachtet das Plakat. Die sechs Männer stecken die Köpfe zusammen und lauschen der Übersetzung des Zitats. Höfliches, aber ratloses Lächeln, bevor sie weitergehen, um das Phänomen Polenmarkt zu besichtigen.
Ein paar Reihen weiter findet ein Dialog ohne Worte statt. Ein Kunde, hat sich von zwei polnischen Händlern Zigaretten und das Wodka-Angebot zeigen lassen. Minuten später bauen sich drei uniformierte Polizisten vor den Polen auf. Eine kurze Kopfbewegung des Zivilbeamten und der Uniformierte leert die Reisetasche aus - Zigarettenpäckchen, ein paar Wodkaflaschen und Kaviardosen. Wortlos übergeben die Polen ihre Reisepässe, packen ihre Sachen ein und lassen sich zum Mannschaftswagen bringen. „Ciao Berlin“, ruft einer hinterher.
Kasimiercz und Wanda verfolgen die Polizeiaktion zwei Meter hinter ihnen ebenso ungerührt wie das philosophische Treiben vor ihnen. Wer Kant ist, weiß Kasimiercz nicht, aber daß der Markt ein internationales Treffen ist, hat Kasimiercz auch ohne das Flugblatt der „Philosophischen Praxis“ gemerkt. Die Polizisten sprechen deutsch, die Kunden meist türkisch, jugoslawisch oder bedienen sich des Händleresperantos: sechs Finger in die Höhe gereckt, Kopfschütteln beim Verkäufer, kurze Rücksprache der Kunden in Türkisch, ein siebter Finger geht in die Höhe. Kasimiercz hält sieben D-Mark in der Hand, der türkische Junge und seiner Eltern schlendern mit zwei Tischdecken weiter. Kasimiercz und Wanda brauchen das Geld, um zu bauen. Nicht der Traum vom Eigenheim, sondern die Angst vor der eklatanten Wohnungsnot in Polen steht dahinter. Sie sind das erste Mal hier, haben eine stundenlange Fahrt im Reisebus und die Zollkontrollen hinter sich. Nächstes Wochenende werden sie wohl nicht wiederkommen. Es lohnt sich nicht, sagt Wanda. Die Kunden wollen am liebsten gar nichts bezahlen.
Andrea Böhm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen