Schnitzlers Abgang: Ost-TV wird ärmer

■ Nach 1.519 Folgen und 30 Jahren wurde der „Schwarze Kanal“ ein- und der große Meister der Dialektik kaltgestellt

Bei aller Liebe zur guten Reform: Wann seit Menschengedenken hat eine ganze Riege von Spitzenpolitikern je einen solchen Opportunismus an den Tag gelegt wie jetzt die führenden Köpfe in der DDR? Wer hat eigentlich den Kurs der vergangenen 40 Jahre bestimmt, wenn landauf, landab die Fähnchen alle in die andere Richtung weisen? Allein ein Mann steht wie ein Fels aus dem Paläozoikum inmitten dieser wechselnden Winde. Das macht ihn wenigstens insoweit sympathisch. Doch seit vorgestern abend hat man diesem Mann auch noch das Fähnchen weggenommen, das er nicht wenden wollte: Karl-Eduard von Schnitzler ist seiner montäglichen Fernsehsendung Der schwarze Kanal verlustig gegangen, mit der er 30 Jahre lang genial wie kein anderer einen Spagat vollbrachte: Unter Berufung auf vielfache Dokumentationen des Westfernsehens die absolute Verelendung der Arbeiterklasse in der BRD zu belegen und nach Ende der TV-Auszüge mit einem inzwischen legendär-zynischen „ja, ja...“ die West-Journalisten als Schreihälse der Großbourgeoisie bloßzustellen - der unangefochtene Meister des dialektischen Fernsehjournalismus mit dem Spitznahmen „Sudel-Ede“.

Schnitzler schaffte dies so genial, daß er in der DDR selbst eine Einschaltquote nahe Null verzeichnete. Lediglich ein paar Kenner im Einzugsbereich des Ostfernsehens im Westen gehörten zu seiner Fan-Gemeinde und versüßten sich den ansonsten so tristen ersten Abend der neuen Woche. Schnitzler war dabei bisweilen auf höherer Ebene die treffliche Fortsetzung eines anderen Fossils, das auf DDR 1 am Montag abend oftmals den Spielfilm zuvor dominierte: Hans Moser, oder - seltener, aber noch passender - Adele Sandrock in ihren mürrischsten Rollen.

Ähnlich mürrisch, aber vor allem ungeheuer arrogant gab sich Schnitzler nicht nur hinter der Fernsehkamera. Auch im Kollegenkreis war er darob kaum noch wohlgelitten. Viel mitmachen mußte der gute Mann daher in diesen bewegten Zeiten. Unvergeßlich dürfte für den Mann der alten Garde das ein Schlüsselerlebnis zu Beginn der Krenz-Wende sein. Mit sichtlichem Vergnügen gab der Fernsehmoderator der nunmehr live veranstalteten Diskussion die Frage eines Zuschauers an ihn weiter: „Herr Schnitzler, sind Sie ein kalter Krieger“? Insoweit wäre es sicherlich zu kurz gegriffen, Schnitzlers kurzen Abgang vom Montag abend nur mit fehlender Einpaßbarkeit in den neuen DDR-Zeitgeist zu begründen. Er war in seinem Metier seit längerem eine persona non grata.

Seine letzte Sendung am vergangenen Montag abend hat den Abschied von „Karl-Eduard von Schni...“ (so genannt, weil der TV-Konsument (Ost) schon nach Sendebeginn den Kanal voll hatte und wechselte) nicht leicht gemacht. Noch einmal löste er all das ein, was der anspruchsvolle Schnitzler-Fan von ihm erwartete. Gleich zu Beginn seiner im noch gewährten fünf Minuten Abgesang klang seine Verwirrbitterung durch, die er in versteckte Ironie auch auf die neuen Verhältnisse im Lande zu kleiden versuchte: Der Sozialismus solle ja nun beseitigt werden, deshalb ist der Frieden jetzt das allerwichtigste und er sei deshalb stolz, daß die DDR der erste Friedensstaat auf deutschen Boden sei. Gegen Ende wurde dann wieder der Kampf bis zum „letztlich siegreichen Sozialismus“ beschworen, deshalb müsse jetzt alles für die Wende getan werden.

Vollends gefangen hatte sich Schnitzler dann allerdings, als er das Ende des Schwarzen Kanals allen Ernstes als einen Baustein in seiner weiteren Karriere darstellte: Sein Feld ist „die Außenpolitik im allgemeinen“ und die ideologische Auseinandersetzung mit den Westmedien im besonderen. Diese Arbeit setze er nunmehr an anderer Stelle im DDR-Fernsehen fort. Wo, bitte: wo?, fragt der Kritiker, er möchte weiter am Wirken Schnitzlers teilhaben! Denn wenn auch Schnitzler vielleicht zu Recht befürchtet, „einige mögen jetzt jubeln“, wenn er seinen Arbeitsplatz wechselt, seine hartgesottene Fan-Gemeinde sicherlich nicht. Eines hat man dem Manne angemerkt, was er auch am Montag noch einmal betonte: „Der Umgang mit der Wahrheit“ sei oft „unbequem“, aber er „befriedigt“ - wie wahr, vor allem, wenn man selbst entscheiden darf, was man mit der Wahrheit macht, und an dieser Befriedigung Schnitzlers teilzuhaben, das war das wahre Montagsvergnügen.

Der Abschied vom Schwarzen Kanal ist aber auch deshalb schmerzlich, weil er symptomatisch sein dürfte für Veränderungen im DDR-Fernsehen. Die Anspruch der DDR-Bürger auf niveauvollere Sendungen vor allem im Magazinbereich soll mitnichten infrage gestellt werden. Als West-Konsument des Ost-TV darf man gleichwohl auf den speziellen Unterhaltungswert von Politsendungen des DDR-Fernsehens hinweisen. Wenn der Abend schon etwas fortgeschritten, ein paar Flaschen geleert und die Stimmung im WG-Wohnzimmer gut war, dann gab es doch kaum etwas Schöneres. Unvergessen die komplette - späte - Stunde Militärparade im fernen Pjöngjang vor dem freundlich winkenden Kim il Sung und dem Besuch Erich Honecker, mit deftigen klassenkämpferischen Sprüchen des Agitators aus Adlershof gewürzt. Oder: Satte zwanzig Minuten der halbstündigen Spätnachrichten der Aktuellen Kamera Ordensverleihungen an dreißig-vierzig Bestarbeiter oder Helden der Arbeit - in ungeschnittener Aufzeichnung einmalig, wunderbar! Von den Erzgebirgler Volksmusiksendungen sei hier ganz zu schweigen. Sie werden uns noch eine Weile erhalten bleiben, zur Not ist hier auch

-etwas dürftigerer - Westersatz gegeben.

Das war's dann: Abmoderation durch die TV-Ansagerin: „Das war die 1519. Sendung des Schwarzen Kanals von und mit Karl Eduard von Schnitzler“ (Kein Wort von Ende bei ihr, ein Fünkchen Hoffnung?). Ede könnte für diesen Verlust an TV -Lebensqualität nur Genugtuung leisten, wenn er eines verwirklichen würde: Live-Talkshow gemeinsam mit Gerhard Löwenthal, egal ob im TV-West oder Neu-TV-Ost.

Ulli Kulke