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Preissteigerung treibt Millionen Polen in die Armut

In allen großen Städten wird an Bedürftige kostenlos Suppe ausgegeben / Obdachlosenheime sind überfüllt / Inflation drückt Renten unter 30 Prozent des Durchschnittslohns / Kasse für Sozialhilfe ist leer / Nationalbank technisch außerstande, Gutscheine auszugeben  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Jeden Tag zwischen 12 und 13 Uhr füllt sich die Kantine des Polnischen Roten Kreuzes (PRK) gegenüber der Warschauer Erlöserkirche. Über hundert Männer, Frauen und Kinder werden dann innerhalb einer Stunde mit kostenloser Suppe versorgt. Vor allem ältere Leute sind es, deren Rente selbst für Grundnahrungsmittel nicht mehr ausreicht, aber auch Kinder, Obdachlose und Studenten. Die Ausgabe erfolgt kostenlos und ohne Überprüfung. Am Anfang, so berichtet eine der Rotkreuzschwestern, die selbst für einen Hungerlohn die Suppe ausgeben, seien es täglich allenfalls zwanzig Personen gewesen. Doch seit die Presse ausführlich über das neue Phänomen berichtet habe, hätte sich auch bei der Suppenausgabe eine Schlange gebildet. Viele bitten verschämt um einen zweiten oder dritten Teller Suppe, löffeln hastig, in sich gekehrt, ohne sich umzusehen.

Armut, das gab es offiziell in Polen bisher nicht. Die meisten der Betroffenen empfinden es als Schande, arm zu sein, halten es gar für selbstverschuldet. Vielen Älteren wurde nur die Arbeitszeit in der Volksrepublik auf den Rentenanspruch angerechnet. Jemand, der also 40 Jahre gearbeitet hat, davon aber nur zehn nach dem Zweiten Weltkrieg, bekommt eine geringere Rente als jemand, der insgesamt nur 15 Jahre gearbeitet hat, diese aber alle nach 1945. Rentner haben keine Lobby, streiken können sie auch nicht. Inzwischen sind die Renten bereits auf unter 30 Prozent des Durchschnittslohnniveaus gesunken. Auch alleinerziehende Mütter und Kinder aus zerrütteten Familien sind von der neuen Armut bedroht. Um eine Familie etwa in der staatlichen Industrie zu ernähren, reicht es schon lange nicht mehr aus, daß nur ein Elternteil arbeitet.

Hauptgrund für die dramatische Entwicklung ist die galoppierende Inflation. Daß am „runden Tisch“ eine Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung vereinbart wurde, hat die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten nicht verhindern können. Zum einen deshalb, weil man sich mit der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes zuviel Zeit ließ, zum anderen, weil die Indexierung im nachhinein erfolgt und die Quoten so spät ausgezahlt werden, daß die Inflation einen Großteil ihres Wertes bereits aufgefressen hat, wenn die Empfänger die Banknoten zu sehen bekommen.

Nachdem die Freigabe der Lebensmittelpreise unter der Regierung Rakowski zu einer bis zu 500prozentigen Preissteigerung in diesem Bereich geführt hat, hat die neue Regierung erwogen, Lebensmittelbons für Bedürftige auszugeben. Geplant war, die bisherigen Subventionen der Produzenten auf die Konsumenten umzulegen. 4,2 Millionen Polen, so errechnete das zentrale Planungsamt, müßten in den Genuß der Scheine kommen. So viele nämlich liegen unter der errechneten Armutsgrenze von 60.000 Zloty monatlich (etwa 15 D-Mark). Tatsächlich ist das Problem um einiges komplizierter, da die Statistiken nur die Lohnauszahlungen der Betriebe, nicht aber die individuellen Einkünfte widerspiegeln. So kann es durchaus sein, daß auch ein professioneller Schwarzhändler mit seiner Villa als Bedürftiger in der Statistik erscheint, weil er sein Gewerbe mit Hilfe eines Scheinjobs als Bauarbeiter getarnt hat. Auf der anderen Seite werden Arbeitslose von der Statistik überhaupt nicht erfaßt, das gleiche gilt für viele Behinderte und Kranke, die sich ihrer Armut schämen.

In allen größeren Städten gibt es inzwischen Ausgabestellen. Ein Rotkreuzhelfer aus Schlesien: „Es gibt immer mehr Leute, die auf die Straße gesetzt werden, die unter Brücken schlafen oder im Müll.“ Ausgerechnet in der Viermillionenstadt Katowice gibt es am wenigsten Heimplätze für Obdachlose, Hilflose und Behinderte. Dem PRK gehen bereits die Mittel für die Nothilfeaktionen aus. Besonders Betriebe geizen mit Spenden, weil sie sie nach geltendem Steuerrecht nicht absetzen können. Die Regierung will auch nicht einspringen: Im Rahmen der Budgetsanierung wurde die Sozialhilfe weiter gekürzt. Kaum hat das Parlament die Essensbons verabschiedet, da meldete die Nationalbank ihr Veto an: Sie sei technisch nicht in der Lage, die Bons den Adressaten zukommen zu lassen. Wie sollte sie auch: Polens Bankensystem ist so veraltet, daß ein Teil der Renten schon seit Monaten nicht mehr ausgezahlt werden kann, weil das Personal fehlt. In letzter Zeit weigern sich immer mehr Banken, selbst Devisenkonten einzurichten. So erklärte denn Sozialminister Kuron am Dienstag dem Volk, Essensbons für Bedürftige werde es einstweilen nicht geben, man werde weiterhin bestimmte Lebensmittel wie Brot, Magermilch und weißen Käse subventionieren. Die Gefahr ist groß, daß diese Art von Hilfe die Empfänger verfehlt. Nachdem die Preise für Vollmilch infolge der Preisfreigabe inzwischen astronomische Höhen erklommen haben, kaufen immer mehr Kunden Magermilch auch solche, die es eigentlich nicht nötig hätten. Während dann die Vollmilch vor sich hin schimmelt, stehen die wirklich Armen vor leeren Regalen.

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