: Jetzt purzeln auch die Marionetten
■ Eine unabhängige Untersuchungskommission soll die Polizeiübergriffe vom 7. und 8. Oktober untersuchen / Rücktrittsreigen in den Bezirksspitzen der SED, in Gewerkschaftsverbänden und Blockparteien...
Berlin (ap/dpa/taz) - In Ost-Berlin konstituiert sich heute eine unabhängige Untersuchungskommission, die die polizeilichen Übergriffe im Zusammenang mit den Demonstrationen am 7. und 8.Oktober „lückenlos“ aufklären soll. Eine solche Kommission war von großen Teilen der Bevölkerung gefordert worden. Unter der Schirmherrschaft des Ostberliner Stadtjugendpfarramtes war in der vergangenen Woche eine Dokumentation zu den Übergriffen vorgelegt worden, durch die die Polizeiführung unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten war. Wie in Ost-Berlin am Donnerstag bekannt wurde, werden der Kommission Vertreter des Verbandes Bildender Künste, der Akademie der Künste, des Verbandes der Journalisten, des Schriftstellerverbandes, der Ostberliner Theaterschaffenden, der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, der Parteien, politischer Initiativen, Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte sowie Vertreter aus Betrieben angehören. „Die für die Vorfälle Verantwortlichen werden in dieser Kommission nicht mitarbeiten“, hieß es weiter. Nach diesem Vorschlag wären allerdings keine Vertreter unabhängiger Gruppen in der Kommission vorgesehen. Dies war in den letzten Wochen immer wieder gefordert worden.
Die Ostberliner FDGB-Bezirksvorsitzende Annelis Kimmel ist als Nachfolgerin des auf Druck der Basis zurückgetretenen Harry Tisch zur Bundesvorsitzenden der DDR -Einheitsgewerkschaft gewählt worden. Frau Kimmel wurde am Donnerstag nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur 'adn‘ in offener Wahl mit 174 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen gewählt.
Mit der Wahl der 55jährigen zog der FDGB eine erste Konsequenz aus dem rapiden Vertrauensverlust der Massenorganisation. Frau Kimmel gehört, wie alle bisherigen FDGB-Vorsitzenden, der SED an. Die gelernte Mechanikerin schloß an der Parteihochschule ein gesellschaftswissenschaftliches Studium ab. Seit 1981 ist sie Abgeordnete der Volkskammer.
Dem Druck der jüngsten Reformentwicklung in der DDR mußte gestern der dienstälteste SED-Bezirkschef, Hans Albert, weichen. Dem ersten Sekretär im Bezirk Suhl wurde unter anderem Privilegienhäufung vorgeworfen. Als Nachfolger wurde Peter Pechauf gewählt, der in seiner Antrittserklärung für die „rasche Umsetzung der Politik der Wende“ eintrat. Ebenfalls geschaßt wurde gestern der SED-Bezirkschef von Gera, Herbert Ziegenhahn, der seit 27 Jahren im Amt war. Nachfolger wur de das ZK-Mitglied Erich Pol sterer.
Vor dem Abgang steht auch der CDU-Vorsitzende Gerald Götting. Auch der Vorsitzende der Nationaldemokratischen Partei in der DDR, Heinrich Homann, ist am Donnerstag von seinem Posten zurückgetreten. Der 78jährige Homann ist Mitbegründer der NDPD und stand seiner Partei seit 1972 vor. 'adn‘ meldete, Homann habe um seine Ablösung „in Einschätzung der Situation in der Partei sowie aus gesundheitlichen Gründen“ gebeten. Vor seinem Abgang steht offenbar auch CDU-Chef Gerald Götting. Der stellvertretende Staatsratsvorsitzende, der seit 1966 der DDR-CDU vorsteht, ist innerhalb der Partei umstritten und wird offenbar auf Druck der Basis seinen Rücktritt erklären. In jüngster Zeit war die unbewegliche CDU-Führung besonders durch die spektakulären Vorstöße des LDPD-Vorsitzenden Manfred Gerlach in Profilierungsverzug geraten.
Gerlach sorgte auch wieder für Schlagzeilen nach seinem Treffen mit EG-Kommissar Martin Bangemann. Die DDR braucht nach Meinung von Gerlach eine neue Regierung. Die Bevölkerung und die LDPD unterstützten die neue Politik, die durch öffentliche Kontrolle unumkehrbar gemacht werden müsse.
Unterdessen forderte der ehemalige Spionagechef Markus Wolf die öffentliche Kontrolle der Sicherheitsorgane durch gewählte Volksvertreter. Das Ministerium für Staatssicherheit dürfe nicht über dem Staat stehen, sagte Wolf in einem Interview.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen