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„Keine Kniekehlen-Entscheidung“

■ Rudolf Prahm verurteilt wegen Sitzblockade vor Giftgaslager / Berufung angekündigt

Angeblich ist er Lehrer „im Ruhestand“, aber das täuscht. Schriftlich und gerichtlich hat der ehemalige Bremer Grundschullehrer, überzeugte Antimilitarist und private Zivilverteidigungs-Forscher Rudolf Prahm, 68 Jahre, seit einigen Tagen, daß er „wegen fortgesetzter versuchter Nötigung“ für schuldig befunden und dafür verurteilt gehört, vor dem US-Giftgas-Depot in Fischbach bei Pirmasens als verwerflicher Gewaltanwender durch einfaches Sitzen gegen die chemische Waffen protestiert zu haben.

Rund 140 gewaltfreie Protestierer aus dem ganzen Bundesgebiet hatten im Juni 1989 fünf Tage lang immer wieder versucht, die fünf Tore des US-Giftgaslagers zu blockieren und so „für eine vollständige Beseitigung aller chemischen Waffen“ zu demonstrieren. Daß am ersten Blockade-Tag überhaupt kein Fahrzeug passieren wollte und daß am zweiten Tag die Polizei die Autos schon vorsorglich selbst außer

Sichtweite der Sitzblockie rerInnen eine Stunde lang festhielt und dann für den gesammelten Konvoi die Straße räumte, beeindruckte den Pirmasenser Amtsrichter wenig; warten oder umkehren zu müssen werde von den VerkehrsteilnehmerInnen „als körperliche Einwirkung empfunden„; die Aktion sei mit einem „erhöhten Grad der sittlichen Mißbilligung“ zu werten. Prahm hatte Pech: Vor kurzem hat ein anderer Pirmasenser Amtsrichter einen Sitzblockierer freigesprochen.

Prahm („Der Entschluß zur Teilnahme am Sitzen kam ja nicht aus meinen Kniekehlen, sondern aus meinem Verstand, meinem Herzen, meiner Seele und meinem Gewissen“) argumentierte vor Gericht aus langer Übung im zivilen und militärischen Ungehorsam; so war er auf dem Kasernengelände eine Zeitlang nur rückwärts gelaufen, bis die drohende Überweisung zu einer Kriegsschule vom Tisch und Prahm als

Oberausmister zu den Offiziers-Pferden strafversetzt war.

Es nutzte Prahm nichts, daß er für seinen „aufklärenden Protest“ doch für kurze Zeit das Gegenüber der Straßenbenutzer brauchte, die die Polizei auf der Landstraße abgefangen hatte: „Der Sinn der Sitzdemo ist doch, anderen unseren Standpunkt deutlich zu machen! Wir haben doch auch in Garlstedt Krankenwagen und Kinderwagen durchgelassen wir sind doch keine Unmenschen!“ Der Richter kam zu der möglicherweise richtigen Auffassung, es sei jedenfalls nicht auszuschließen, daß der pensionierte Lehrer „weitere Straftaten“ dieser Art begehe, und wollte zunächst 30 Tagessätze a 60 Mark verhängen. Mit Rücksicht auf Prahms Ehestand („nicht berufstätige Ehefrauen sind anspruchsvoller als Berufstätige“) ging er zu Prahms Empörung auf 60 mal 55 Mark herunter. Natürlich geht der Sitzblockierer in die Berufung. S.P

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