DDR-Ministerrat wirft 44 Handtücher

■ Geschlossener Rücktritt der Regierung - rechtzeitig zum ZK-Plenum / Rechts- und Verfassungsausschuß der Volkskammer verwirft Reisegesetz als „nicht akzeptabel“ und verlangt Fortfall der Visumpflicht / SED-Kaderschmiede fordert Sonderparteitag

Ost-Berlin (ap/dpa/taz) - Wenige Stunden nach seiner Ernennung zum ersten Regierungssprecher in der Geschichte der DDR konnte Wolfgang Meyer seine erste Amtshandlung vornehmen: er gab vor der internationalen Presse den geschlossenen Rücktritt des DDR-Ministerrrats bekannt. 44 Minister folgten ihrer einzigen Kollegin nach Volksbildungsministerin Margot Honecker war bereits vor einigen Tagen zurückgetreten. Unter massivem gesellschaftlichem und parteiinternem Druck beginnt so heute in Ost-Berlin die 10. Tagung des Zentralkomitees (ZK) der SED.

Insbesondere der am Montag veröffentlichte Entwurf eines neuen Reisegesetzes scheint den Unmut der Bevölkerung weiter anzuheizen. Nach übereinstimmenden Berichten verliefen die Demonstrationen von Montag abend in Leipzig und anderen Städten des Landes in aggressiverer Atmosphäre als in den Wochen zuvor. Am Dienstag nachmittag noch protestierten in Ost-Berlin 5.000 meist jüngere Demonstranten gegen den Wahlbetrug bei der Kommunalwahl vom 7. Mai.

Offensichtlich als Reaktion auf die äußerst skeptische öffentliche Aufnahme wurde der Reisegesetzentwurf gestern vom Verfassungs- und Rechtsausschuß der Volkskammer als „nicht akzeptabel“ verworfen. Der Entwurf werde nicht der Erwartungshaltung der Bürger und damit auch nicht der möglichen Wiedererlangung der politischen Glaubwürdigkeit des Staates gerecht, hieß es in einer am Dienstag einstimmig angenommenen Erklärung der Abgeordneten. Ein neuer Entwurf, an dessen Zustandekommen sich der Ausschuß mit eigenen Vorschlägen beteiligen wolle, sollte auf die Visumpflicht bei Privat- und Dienstreisen generell verzichten, die Reisen strikter von Ausreisen trennen, den Zugang zu Devisen klären, Versagungsklauseln für den Reisepaß neufassen und die zeitliche Beschränkung überdenken.

Gleichzeitig nimmt die Ausreisewelle über die CSSR immer dramatischere Formen an. Bis heute morgen werden nach Angaben des Bundesgrenzschutzes 35.000 DDR-Flüchtlinge die Grenze passiert haben.

Kennzeichnend für die wachsende Unzufriedenheit innerhalb der Partei sind die gestern veröffentlichten Forderungen führender Vertreter der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam. Ihrer Ansicht nach spitzt sich die Lage in der DDR von Tag zu Tag zu. Die Angehörigen der Kaderschmiede fordern von der ZK-Tagung die Einberufung eines Sonderparteitages, dessen Delegierte von den Grundorganisationen der Partei gewählt und mit „inhaltlichen Mandaten“ für die Verabschiedung eines Aktionsprogramms ausgestattet sein müßten. Der Sonderparteitag müsse ein neues Parteiprogramm und ein neues Parteistatut ausarbeiten. Den gesellschaftlichen Aufbruch der letzten Wochen werten die Staatsrechtler als „Votum gegen die SED“. Sie fordern weitreichende inhaltliche und personelle Weichenstellungen. Denn die SED bleibe unglaubwürdig, „wenn auf der obersten Führungsebene der Partei weiter Genossen agieren, die sich eindeutig opportunistisch verhalten haben und verhalten“. Die Schuld für die entstandene Situation sehen die Wissenschaftler eindeutig bei der Parteispitze: „Das jahrelang ignorante und arrogante Verhalten der Führung selbst zu zurückhaltender und besonnener Kritik hat die Krise provoziert.“

Inzwischen verstärkte sich der Druck auf die DDR-Regierung. Der Zentralvorstand der IG Metall im Gewerkschaftsbund FDGB, der DDR-Kulturbund sowie der Rechts- und Verfassungsausschuß der Volkskammer forderten den Rücktritt der gesamten Regierung. Bereits am Freitag hatte Egon Krenz Fortsetzung auf Seite 2

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bei der Vorstellung des Aktionsprogramms der Partei die Forderung des LDPD-Vorsitzenden Gerlach nach Rücktritt der Regierung unkommentiert erwähnt, was allgemein als Zustimmung von seiten des Politbüros gewertet wurde. Krenz hatte neben einigen Reformvorhaben auch die Abberufung „verdienter Genossen“ aus dem höchsten Führungsgremium der Partei angekündigt.

Mit Spannung wird erwartet, ob neben den acht bereits geschaßten Genossen noch weitere Politbüromitglieder auf der ZK-Tagung abberufen werden und wer in das Führungsgremium aufsteigt. Als sicher gilt die Wahl des Dresdner Bezirksparteichefs Modrow, der auch als zukünftiger Regierungschef gehandelt wird.