Unbestechliche DDR-Kamera

■ Sensationelle Dokumentation über den baulichen Zerfall Leipzigs: Diagnose Koma

Berlin/Leipzig (dpa/ap) - Leipzig im November 1989, DDR -Fernsehen, 1. Programm: „Wir müssen nicht auf Naturkatastrophen warten, Leipzig ist eine Katastrophe.“ Spektakulärer als mit dem Film Ist Leipzig noch zu retten? konnte das DDR-Fernsehen seinen Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler am Montag abend nicht auf dem angestammten Sendeplatz des nun eingestellten „Schwarzen Kanals“ ersetzen. Ein schockartiger Film der Wahrheit, wo bisher nichts als Nebel verbreitet worden ist: Bilder, die weh tun, die unter die Haut gehen, eine Dokumentation des dramatischen Zerfalls der zweitgrößten Stadt der DDR, Bilder wie aus New Yorker Ruinenvierteln. Aber die schonungslose Diagnose galt Leipzig und lautete: Koma.

Der nach bisherigem Maßstab schlicht sensationelle Beitrag von Ruth Geist-Reithmeier rüttelte auf, bedeutete für die „Wende“ in der Medienlandschaft der DDR so etwas wie eine Sternstunde an einem Abend, in dem wieder wie in vielen Wochen zuvor montags Hunderttausende ihre Forderungen nach Reformen durch die Straßen der Stadt trugen. Das Schlußwort des beispiellosen Films, der mit Klartext eine neue Reportagenreihe einleitete, gab auch ein neues Selbstverständnis der Journalisten wieder: „Auch wir werden künftig die Entwicklung dieser Stadt nicht mehr aus den Augen lassen.“

104.000 Wohnungen sind in Leipzig vor 1918 erbaut worden. Das sind 41 Prozent des Bestands. Seit drei Jahren ist die Zahl der neugebauten Wohnungen geringer als die der geräumten Wohnungen. „Der Verfall überholt die Erneuerung.“ Die Autorin belegt, daß bei jetzigem Tempo und bisheriger Strategie der Baupolitik die Einwohnerzahl Leipzigs bis zum Jahr 2000 um rund 100.000 sinken wird. Dies seien etwa 70.000 Arbeitskräfte von rund 300.000. Die Anklage: „Die Stadt wird in den Kollaps geführt.“

Die Bilder, „die wir so bisher nicht zeigen durften, weil sie das Lackbild unserer Selbstzufriedenheit beschädigt hätten“, sind unbestechlich, „wie unsere Kamera“, sagt die Autorin. Der Blick gleitet über quadratmeterweise überall von den Wänden bröckelnden Putz, erfaßt zerborstene Wasser und Kanalrohre, offene, gefährliche Löcher in Böden und Decken. „Kinder dürfen hier nicht mehr spielen, das ist Einsturzgefahr, alles“, berichtet ein Bürger. Ein anderer sagt: „Die Wohnungen sind alle naß, die Toiletten, Elektrikleitungen, alle kaputt.“ Ein Bauarbeiter, der mit seinen Kollegen die Gründung eines eigenen Abrißbetriebes nicht durchsetzen konnte, macht den Vorschlag, zum Einreißen Pioniereinheiten der Armee einzusetzen.

Unter den neuen Vorzeichen brechen alte Differenzen offen aus. Bauarbeiter schimpfen lauthals, aber sachlich, über Bevormundung durch Ostberliner Behörden. Als Leipziger Bauarbeiter vor drei Jahren nach Ost-Berlin zum Bauen mußten, weigerten sie sich zunächst, gingen dann nur auf Weisung des Ministers. Bauminister Wolfgang Junker hat in Leipzig wenig Freunde. „Wenn er sich nie die Stadt richtig angesehen hat, dann kann er ja auch nichts wissen. Wir Bauleute haben unseren Minister jahrelang nicht gesehen, nur zu Blitzbesuchen beim Durchfahren zur Messe“, heißt es wütend.

Ist Leipzig noch zu retten? Ein Arbeiter sagt: „Viel ist nicht mehr dran an der Stadt hier.“ Eine junge Frau meint: „Die Welt ist so aufmerksam geworden auf Leipzig, daß man sich das nicht leisten kann, daß man so eine Stadt nicht einfach verfallen lassen kann.“