Wandel im Osten - ohne die CDU

Bundestagsdebatte zur Lage der Nation / Tiefgreifende Differenzen über die Endgültigkeit der polnischen Westgrenzen / FDP-Aufstand von der CDU wieder eingefangen / SPD mahnt fehlendes Gesamtkonzept für DDR-Flüchtlinge an / Vollmer: „Versöhnungsimperialismus“  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Die dramatischen Veränderungen in der DDR und eine heftige Auseinandersetzung in der Regierungskoalition über die polnische Westgrenze bestimmten gestern die fünfstündige Debatte des Bundestages zur „Lage der Nation“. Die Diskussion war von deutlichen Meinungsunterscheiden geprägt: Während Bundeskanzler Kohl und die Unionsredner den Willen zur Wiedervereinigung deutlich machten, sagte Oppositionsführer Vogel unter Hinweis auf das von der CDU angeführte Selbstbestimmungsrecht, in der DDR sei die Wiedervereinigung derzeit kein Thema.

Einen Tag vor der Polenreise des Kanzlers stand die Frage der polnischen Westgrenze im Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung. Helmut Kohl machte noch einmal klar, daß er zu keinerlei Zugeständnissen bereit sei. Zwar gelte der Warschauer Vertrag mit der darin festgehaltenen Unverletzlichkeit der Grenzen, eine endgültige Regelung müsse einem Friedensvertrag überlassen bleiben, sagte Kohl, während Außenminister Genscher demonstrativ seine Akten bearbeitete. Kohl erntete Zwischenrufe als er betonte, „die Zeit ist reif für eine Versöhnung“ mit Polen, dazu gehöre aber „auf beiden Seiten auch der ehrliche Umgang mit den dunklen Kapiteln der Geschichte“. Nachdrücklich wies Kohl auf die Rechte der in Polen lebenden Deutschen hin.

SPD-Chef Vogel forderte die Bundesregierung dazu auf, die Westgrenze als endgültig zu betrachten, wie es Außenminister Genscher Ende September bereits vor der UN-Vollversammlung formulierte. Auch das rechtliche Weiterbestehen des deutschen Reiches dürfte bei der Anerkennung der Westgrenze kein Hindernis für die Bundesregierung sein „auszusprechen, daß dies unser politischer Wille ist“, sagte Vogel.

Bis in die Nacht zum Mittwoch hatte die Regierungskoalition um die Haltung der FDP zu einem Antrag der SPD gerungen, die ausschließlich Außenminister Genschers Erklärung zur Abstimmung stellte und damit die FDP in eine Zwickmühle brachte. Als Kompromißformel brachte die Regierungskoalition schließlich einen Antrag ein, der die Position der CDU/CSU und die Genscher-Position unverbunden hintereinander aufführt. Antje Vollmer, die dem Kanzler „Versöhnungsimperialismus“ vorwarf, sprach von einer „Zusammenstoppelkoalition“. Die FDP offenbare ein „memmenhaftes Verhalten“. Bei der Abstimmung schloß sich dann die SPD dem Antrag der Regierungskoalition an, die Grünen enthielten sich. 26 Abgeordnete aus dem Vertriebenenlager betonten ausdrücklich die Gültigkeit der Grenzen von 1937. Darüber hinausgehende Gebietsansprüche erheben sie nicht. Sie formulierten ein Dissenspapier, stimmten aber dem Antrag zu.

Die Grünen unterlagen mit einem Antrag, der die deutsche Zweistaatlichkeit zum Inhalt hatte.

Selbstbestimmung sei das „Herzstück“ der Deutschlandpolitik, erklärte der Bundeskanzler. Alle Parteien zeigten sich tief beeindruckt von den Vorgängen in der DDR. Die Entwicklung in der DDR erfordere einen Dialog mit allen politischen Kräften, auch mit der SED, sofern sie zu Reformen bereit sei, sagte Kohl und nannte die Aufgabe des Machtmonopols, die Zulassung unabhängiger Parteien und freie Wahlen. Unter diesen Voraussetzungen könne auch „über eine neue Dimension“ wirtschaftlicher Hilfe gesprochen werden, hieß es unter Beifall der SPD.

Oppositionsführer Vogel erklärte, in der DDR vollziehe sich ein „revolutionärer Prozeß“, der bereits jetzt das Land verändert habe. Der Veränderungsprozeß in Osteuropa sei das Ergebnis der Brandtschen Ostpolitik, nicht des Festhaltens an alten Positionen, sagte er in Richtung der CDU/CSU. Vogel mahnte ein fehlendes Gesamtkonzept für die Versorgung und Unterbringung der bislang über 200.000 DDR-Übersiedler an, wobei der Bund stärker als bisher einen Beitrag leisten müsse.