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„Jetzt wäre ich am liebsten in Berlin“

■ Henning Scherf im Gespräch mit der taz am Tag nach dem Öffnen der Grenzen

taz: Herr Scherf, was verändert sich jetzt, nach den Ereignissen der vergangenen Nacht?

Scherf:Die offenen Grenzen werden das Entwicklungstempo erheblich beeinflussen. Dies ist ein solch fundamentales Großereignis, das einfach alles beeinflußt!

Wie wird es weitergehen?

Wenn's gut geht, werden über Aufbaupläne Investitionen in Milliardenhöhe konstruktiv in die DDR fließen. Ich fordere deshalb erneut: Die zweite Stufe der Steuerreform muß ausgesetzt werden, um Gelder freizusetzen. Und wenn es nicht gut geht, wenn gelauert wird: „Geht die SED kaputt?“, oder wenn noch viel abenteuerlicher jetzt erst die Wiedervereinigungsfrage verhandelt werden soll, dann bedrohen die Kräfte, die dieses wollen, beide Gesellschaften. Das hieße auf Treibsand bauen. Und mit Blick auf die Flüchtlinge heißt das, daß sie die Bundesrepublik als eine in „arm“ und „reich“ gespaltene Gesellschaft erleben. Und auch die jetzt herkommen, werden entweder in die arme oder in die reiche Entwicklung reinrutschen.

Welche Konsequenzen hat dies für die Politik?

Kurzfristig müssen wir natürlich Notquartiere bereitstellen. Mittelfristig müssen wir Wohnungsbestand schaffen...

Heißt das, so schnell wie möglich und ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen?

Dies ist eine Frage des Abwägens. Zunächst müssen die baureifen Projekte so schnell wie möglich realisiert werden. Da dies nicht reicht, müssen wir auch in diesem engen Stadtstaat neue Bauquartiere ausweisen, wenn wir nicht aufgeben wollen. Dabei stoßen wir zwar an ökologische Grenzen. Aber es geht nicht um Entweder-Oder: Es gibt zahlreiche intelligente Verbindungsmöglichkeiten und Entwürfe, die aus den hektischen 50er Jahren gelernt haben...

Also kein zweites Tenever?

Nein, unter gar keinen Umständen! Wir haben ja schließlich inzwischen die sozial-politische Erfahrung gemacht, daß sich in diesen monströsen Betonburgen Feindseligkeiten gegen Ausländer, Behinderte und Jugendliche konzentrieren und dort Stadtteilkultur weitgehend zerschlagen wird. Die hochintelligenten Planungen zeigen aber, daß auch verdichtetes Wohnen mit hoher Lebensqualität, mit Nachbarschaftshilfe, Kommunikation und menschlicher Nähe möglich ist.

Für solche Projekte muß man aber auch Zeit und Geld haben...

Die Bundesrepublik hat soviel Geld wie nie zuvor! Es ist nur falsch verteilt.

Was unternimmt der Sozialsenator Scherf, um die Umverteilungsdiskussion in Gang zu setzen?

Ich bin ja nicht nur Sozialsenator, sondern auch im Parteivorstand und in der Arbeitsgruppe „Fortschritt 90“ um Oskar Lafontaine und sitze deshalb schon lange und unabhängig von der Entwicklung in der DDR, die uns jetzt eingeholt hat, an „ökosozialen Strukturkonzepten“. Man muß jetzt die öffentlich verteilbaren Finanzierungsmassen sondieren und sortieren. Wohnungen sind wie Verkehr solche Bereiche kommunaler Infrastrukturpolitik, die sich nicht über die Nachfrage am Markt regeln.

Nochmal zum Tempo: Ist das nicht alles viel zu betulich und beschaulich und viel zu langsam?

Die Gründermentalität ist doch aber restlos in Verruf geraten. Alle aktionistischen Gründerprogramme sind doch, nicht zuletzt von der Grünen Bewegung, kurz und klein argumentiert worden, woran ich auch beteiligt war. Baulöwen, die nur starr auf Betonmassen und Quadratmeter stieren, haben uns die „Neue Heimat“ zerstört und der Bremer „Treuhand“ die Pleite gebracht. Gegen den Gigantomanismus läßt sich durchaus so etwas wie sanfte Technologie setzen. Gegen die kritischen Standards sind „ökologische Gebrauchswert-Qualitäten“, durchaus zu realisieren. An Ideen fehlt es nicht, höchstens an Ausführenden ...

Bau- und Facharbeiter kommen ja mittlerweile genug aus der DDR ...

Tja, und wer, wenn nicht wir in der Bundesrepublik, einem der reichsten Länder dieser Erde, könnten eine solche Entwicklung ökonomisch tragen?

Haben Sie in den letzten Tagen mit Stoltenberg telefoniert?

Da bin ich als Kriegsdienstverweigerer nicht der naheliegendste Kollege im Senat... Das überlasse ich Geeigneteren. Aber natürlich müssen wir uns jetzt unabhängig von der Unterbringung der Leute in den Kasernen auch fragen, und da waren alle Senatskollegen meiner Meinung, bis zu welchem Grad denn angesichts der Entwicklung in der DDR diese Bundeswehr überflüssig ist. Was verteidigen wir eigentlich? Wer bedroht uns eigentlich?

Herr Scherf, begreifen Sie Ihre jetzige Situation hier im 15. Stock als Herausforderung? Oder möchten Sie lieber etwas anderes machen?

Diese Arbeit, auch das rein Organisatorische, ist nötig. Ich fühle mich keineswegs überfordert.

Wären Sie jetzt lieber im Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen?

Nein, bewahre. das ist zu langweilig. Aber wenn ich so mobil wäre wie meine Kinder zum Beispiel, dann würde ich jetzt am liebsten nach Berlin oder in die DDR gehen, um mich dort an diesem Prozeß zu beteiligen.

Wie kurz sind denn im Moment die Nächte für den Senator Scherf?

Na, so auf vier, fünf Stunden komme ich schon noch.

(Fragen: Andreas Hoetzel / Birgitt Rambalski)

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