„Ungenutzten Wohnraum beschlagnahmen“

■ Im „Land öffentlicher Armut und privaten Reichtums“ beim Sozialsenator zwischen Krisenmanagement und Bundespolitik

Tivoli-Hochhaus, Sozialbehörde 15. Stock, 10.11.1989: Eigentlich hätte Henning Scherf gestern im Bundesrat zur Jugendhilfe sprechen sollen. Doch nachdem das Bundesinnenministerium in der Nacht angerufen und eine nicht abschätzbare Welle von Ausreisenden angekündigt hatte, sagte Scherf sämtliche Termine ab. Stattdessen stellte er sich in Bremen dem Krisenmanagement, den ohne Unterlaß anrückenden JournalistInnen-Teams und: machte Bundespolitik. Seine Chefetage war die einzige, in der von den Ereignissen ausgelöstes Fieber zu spüren war.

Gleich morgens gab der Krisenstab die Anweisung, den Bun

ker weiterzuheizen und für die ersten ÜbersiedlerInnen bereitzuhalten. In der Wilhelm-Kaisen-Kaserne sollen die Soldaten weiter zusammenrücken und für 600 Menschen Platz schaffen. In der Turnhalle am Barkhoff werden Betten bereitgestellt.

Im Vorgriff auf einen zwangsläufig einzurichtenden festen Krisenstab waren gestern vormittag die organisatorischen Probleme zu klären, um sich für den Wochenend-Ansturm zu rüsten: Telefonkette der Mitarbeiter. Eine zentrale Meldestelle („Schleuse“) in Bremen-Nord für die Ankommenden und ihre Weiterleitung. Eiliges Einrichten einer „Stelle zur Sofortauszahlung

für Sozialhilfe in Notfällen für Aus- und Übersiedler“, damit die Flüchtlinge an D-Mark kommen. Bis 14 Uhr mußte fieberhaft Geld aus der Landeszahlstelle organisiert werden. (Notruf: ASB Bremen-Nord, Tel 632042).

„Die Ereignisse berühren uns auf der ganzen Breite gesellschaftlichen Handelns. Wir müssen uns darauf einstellen und uns ein Stück einschränken“, sagt

Scherf und hofft, daß Privatleute zusätzlichen Wohnraum anbieten. „Das extensive Nutzen von Wohnraum können wir nicht mehr sich selbst überlassen“, meint er. Leerstehende und nicht belegte Zweit- und Drittwohnungen sollen ab der nächsten Woche über das Obdachlosenpolizeirecht beschlagnahmt werden, verkündete er. In diesem Land mit „öffentlicher Armut und pri

vatem Reichtum“ gebe es keine politische Berechtigung zu behaupten, daß dieses Problem nicht zu lösen sei. Scherf: „Das ist blanker Zynismus und eine Schande, die ich nicht akzeptieren kann.“ Er wünsche sich, daß die hier Geborenen begreifen, daß dies ein Privileg sei und daß sie sich den Flüchtlingen gegenüber entsprechend verständnisvoll verhalten.

ra