: Brandts Come-Back - Kohls Reinfall
■ Berlins Politiker feierten den historischen Tag / Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg / Kohl rückt mit seiner gesamten Kabinettsriege an und wird ausgepfiffen / Genscher bekräftigt polnische Westgrenze
Berlin (taz) - Die 20.000 Berliner, die gestern abend vor dem Rathaus Schöneberg demonstrierten, wußten, was sie wollten: Willy hören. Sie wußten aber auch genau, was sie nicht wollten. Sensibel reagierte die Menge auf alle Andeutungen von Wiedervereinigungsparolen, so versteckt sie gewesen sein mochten. Mit „Nazis raus“ quittierten die Leute die Rede des Fraktionsvoritzenden der Republikaner während der Abgeordnetenhausdebatte, die kurz nach 16 Uhr nach draußen übertragen wurde. Und Bundeskanzler Helmut Kohl wird bedauern, daß er extra aus Polen angeflogen kam. Er wurde während seiner gesamten Rede ausgepfiffen. Und am Ende, es war peinlich und gespenstisch zugleich, stimmte Parlamentspräsident Wohlrabe das Deutschlandlied an. Doch die Herren mußten alleine singen. Vor der pfeifenden und lachenden Menge intonierten Momper, Kohl, Willy Brandt, der Parlamentspräsident und die ganze Bonner Politiker- und Ministerriege die erste Strophe der Nationalhymne. Das Läuten der Freiheitsglocke erlöste sie schließlich aus ihrer Bedrängnis.
Schon bei der Begrüßung wurde klar, der Bundeskanzler ist unerwünscht. Da hatte auch die nachdrückliche Betonung des Regierenden Bürgermeisters, „Gäste begrüßen wir hier“, an dem Pfeiffkonzert nichts ändern können. Momper beglückwünschte bei der öffentlichen Kundgebung des Abgeordnetenhauses die Bürger der DDR zur ihrer „friedlichen und demokratischen Revolution“. Denen, die jetzt von der Wiedervereinigung sprechen setzte er entgegen, der Tag, als sich die Grenze geöffnet hat, sei nicht der Tag der Wiedervereinigung, sondern der Tag des Wiedersehens gewesen. „Wir heißen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR und Ost -Berlins herzlichen willkommen“, sagte Momper, „wir freuen uns auf das Wiedersehen und das Zusammensein“. Momper wollte den Leuten drüben, wie es inzwischen zur rhetorischen Floskel geworden ist, „keinen Ratschlag geben“, tat es dann
-vorsichtig zwar - doch. Sie sollten doch prüfen, bat Momper, ob sie nicht doch mehr Vertrauen in den Prozeß der Erneuerung und der Reform haben könnten, und ob sie nicht gebraucht würden für eine bessere Gesellschaft in der DDR. „Gegen das Volk kann in der DDR nicht mehr entschieden werden“, versuchte er der Entwicklung etwas von der Euphorie, die derzeit in West-Berlin herrscht, hinüberzuschicken. Momper gab klar der SED die Schuld an der Misere, meinte aber auch, sie wage jetzt einen „grundlegenden Neuanfang“. Mit Bärbel Bohley ist er der Meinung, daß es jetzt darauf ankomme, die Mauer in unseren Köpfen abzubauen. Den Ostblock gebe es nicht mehr, die Zukunft Europas werde von Menschen gemacht, nicht von Nationalstaaten und Blöcken.
„Die Parolen von gestern führen nicht weiter“
Hatte schon Momper, dem jetzt die Früchte jahrelanger Ost -Politik von der Opposition drüben in den Schoß geworfen werden, teils jubelnden Beifall bekommen, als der ehemalige Regierende Bürgermeister Berlins und Altbundeskanzler Willy Brandt ans Rednerpult trat, gab es minutenlage Begeisterung. „Dies ist ein schöner Tag“, sagte Brandt schlicht und freute sich für die bislang getrennten Familien über das Wiedersehen. Allerdings habe man noch einen langen Weg vor sich. Und Willi Brandt nahm man es dann auch nicht übel, daß er über die Frage von Wiedervereinigung oder Zweistaatlichkeit einen Schleier zog. Man müsse jetzt das tun, meinte er, was den Interessen der Deutschen ebenso nütze, wie ihrer Pflicht zum Frieden. Brandt vermied es ausdrücklich, Bekenntnisse zur staatlichen Form eines sich entwickelnden Deutsch-deutschen Verhältnisses abzugeben. Seine Rede galt ganz der Geschichte. Er erinnerte an den August 1961, als die Mauer gebaut wurde und er voll Zorn an dieser Stelle gerufen habe, „Die Mauer muß weg“. Legte aber auch klar, daß die Spaltung Deutschlands und die Teilung der Stadt aus Nationalsozialismus, Krieg und der Uneinigkeit der Siegermächte herrührten. Die „Parolen von gestern“, so Brandt, führten jetzt nicht weiter.
„Hoch die internationle Solidarität“, skandierten derweil Teile der Demonstranten. Die schwarz-rot-goldene Fahne der BRD wurde geschwenkt, aber auch eine DDR-Fahne. Und das reine Rot war ebenso vertreten wie Rot-Schwarz. Einer der vielen Tausend holte den „historischen“ Tagm, um den der „Hauch der Geschichte“ wehte, auf den Boden zurück und forderte auf einem Transparent „Job now“. Und so viel dann auch Willy, Willy gerufen wurde, kam doch Bundesaußenminister Genscher ans Mikrofon mit einer unglaublichen Ankündigung. Ab sofort gibt es fünf neue Löcher in der Mauer. Über die Glienicker Brücke kann Richtung Potsdam gefahren werden und umgekehrt. Und den Kirchhainer Damm können ebenfalls Autos passieren. Weitere Übergänge folgen in diesen Tagen. Ab Samstag ist der Übergang Potsdamer Platz geöffnet. Die Demonstranten dankten es Genscher stürmisch, daß er an dieser Stelle klare Worte zur deutsch polnischen Grenze fand. Niemals mehr „wird von uns Deutschen die Grenze zwischen Deutschen und Polen in Frage gestellt. Wir werden keine Probeleme und Schwierigkeiten, die in den Staaten des Warschauer Paktes auftreten, einseitig für uns ausnutzen“, sagte der Bundesaußenminister. Kein Volk Europas müsse sich jetzt, wo sich die Tore zwischen den beiden deutschen Staaten öffenten, fürchten. „Ein langer Weg hat eine wichtige Zwischenstation erreicht. Wir werden ihn weitergehen. Wenn die Stunde der Freiheit in ganz Europa schlägt, können wir sagen, Deutsche haben daran mitgewirkt und wir waren dabei.“
Und hätte nicht am Ende der Bundeskanzler darauf bestanden, seine Rede zu halten, man hätte sich in Begeisterung getrennt. Denn daß Parlamentspräsident Wohlrabe am Anfang der Kundgebung eine zuvor in der Abgeordnetenhaussitzung abgelehnte Resolution zur Öffnung der Grenzen als eigenen Redebeitrag vorgetragen hatte, hatte kaum jemand gemerkt. Der abgelehnte und umstrittene Satz bekundet den Willen, auf einen „Zustand des Friedens und der Einheit Europas hinzuwirken, in dem auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit erlangen kann“. Diese Festlegung auf die Einheit als einzige Perspektive der beiden deutschen Staaten hatten SPD und AL nicht mittragen wollen. Mit der Begründung, daß man es ernst meine mit dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen hatte man sich auf die Formel verständigt, das Deutsche Volk solle zu der Gestaltung seines Zusammenlebens kommen, zu der es sich in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes entscheidet.
Der Kanzler hatte sich offenbar vorgenommen auch einmal in Berlin Geschichte machen zu wollen und erwies sich als standfest. Obwohl nahzu zur Unhörbakeit verdammt und mit rythmischen „Aufhören, Aufhören“ Rufen begleitet, erklärte er, worum es jetzt gehe, nämliche um „Einigkeit und Recht und Freiheit“. „Wir sind und bleiben eine Nation“ rief er über eine Mauer, deren Autorität als trennende Grenze derzeit keinen mehr interessiert.
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