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„Die Mauer muß weg“

Massenhaft DDR-Bürger bei Hertha BSC - Wattenscheid (1:1)  ■  PRESS-SCHLAG

Die Mauer muß weg“, riefen über 50.000 Menschen, meinten aber nicht die am Brandenburger, sondern jene vor dem Wattenscheider Tor. Bei jedem Freistoß für Hertha BSC hallte dieser Spruch durchs Olympiastadion, gefolgt von Gelächter und Gejohle. Doch der Schiedsrichter ließ sich von Feierstimmung und historischen Ereignissen nicht überzeugen. Keine Regeländerung, die Wattenscheider durften stehenbleiben.

10.000 Freikarten hatten Hertha und der japanische Sponsor dieses verkauften Spiels der zweiten Liga, momentanen Gepflogenheiten folgend, den fußballbegeisterten DDRlern spendiert. Kurz vor Spielbeginn wurden sogar alle umsonst hineingelassen. Mit dem Ergebnis, daß die Berliner zum erstenmal seit zehn Jahren wieder vor fast ausverkauftem Haus antreten konnten. Neben den sonst üblichen blau-weißen Fähnchen, Mützen, Schals und Trikots überwog diesmal die Farbe Rot, die Vereinsfarbe des 1. FC Union aus Ost-Berlin.

So an die 25.000 Ossis hatten rübergemacht, um sich nach 28 Jahren das diesmal eher zweifelhafte Vergnügen anzutun: Hertha live. Im Zweiminutentakt karrte die U-Bahn Tausende mit Plastiktüten und Schultheiß-Sixpacks beladene Menschen direkt vom KaDeWe ans Stadion. Schon vor dem Kaufhaus hatten sich die ersten dramatischen Szenen des sonst so friedlichen Berliner Volksfestes abgespielt. Auch im Westen ließ sich der Fall in die Realität nicht vermeiden. Einige Ehepaare diskutierten mit heißem Herzen die übli che Samstagnachmittagsentscheidung: Fußball oder Familie. Meist setzte sich die Vernunft durch, und mißlaunig trotteten die Ehemänner mit verkniffenem Gesicht den Angetrauten hinterher in die Freßabteilung des KaDeWe.

Verwunderung auch auf dem Weg ins Stadion mit dem Auto. Überall Spoiler, Rallyestreifen, nur klebten sie nicht an Golfs, Kadetts oder Asconas, sondern an unzähligen Trabbis und Wartburgs. Auch im dicksten Stau blieben die Gesichter der Insassen entspannt, während manchem Wessi-Autofahrer speiübel wurde vom Zweitaktergestank. Aber all diese Widrigkeiten wurden hingenommen, sogar das Alkoholverbot im Stadion war kein Problem. In unfaßbar kurzer Zeit wurden die mitgebrachten Bierdosen vor den Kassenhäuschen in fußballdurstige Schlünder geschüttet.

In der Arena selber wurde interessiert und staunend geguckt. Die Stimmung war entspannt und friedlich. Einige blöde rechte Sprüche der ewig trotteligen Hertha-Fans wurden ignoriert oder gingen im allgemeinen Gejohle unter. Die auf der Anzeigentafel aufleuchtenden Begrüßungsworte „Unsere Gäste aus Ost-Berlin und Mitteldeutschland“ erzeugten Gelächter. Es bestand kein Grund zur Sorge, daß vielleicht doch noch die Nationalhymne gesungen würde. Bedenklich wurde die Stimmung nur, als die Senatorin für Sport, Sybille Volkholz, bei einer kurzen Ansprache von den meisten erbarmungslos ausgepfiffen wurde. „'ne Frau beim Fußball, und dann noch 'ne rot-grüne, nee“, ereiferten sich Ossis und Wessis vereint auf den Sitzbänken.

Auch sonst gab es keine Anpassungschwierigkeiten. „Ha-ho -he, Hertha BSC“ wurde genauso problemlos gegröhlt wie „Ruhrpottschweine“ oder „Watt'n Scheiß“. Sicherlich wurden damit nicht nur die Gäste aus Westdeutschland gemeint, sondern auch das Spiel. Doch trotz aller Kritik am laschen Kick der Herthaner, denen wohl die überraschend große Kulisse zu schaffen machte, steht der Westberliner Verein bei den meisten Fußballfans aus dem Osten so hoch im Kurs, daß sie nicht aufgeben und solange wiederkommen wollen, bis sie mal ein gutes Spiel zu sehen bekommen. Während der letzten Minuten interessierte ohnehin bloß noch die Frage, wie man wohl am besten vor Ladenschluß zurück zum Kudamm käme.

Schmiernick

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