piwik no script img

Wo liegt Mitteleuropa?

In Wroclaw (Breslau) trafen sich Oppositionelle aus der CSSR, Polen und der DDR zu einem dreitägigen Disput über die Zukunft Mitteleuropas: „Zwischen Kommunismus und Kommerzialismus“ / Der Niedergang der realsozialistischen Systeme kann den alten Nationalismen in Ostmitteleuropa neuen Auftrieb geben  ■  Aus Wroclaw C. Semmler

„Wroclaw von Tschechen und Slowaken besetzt“, betitelte die der Solidarnosc nahestehende Tageszeitung 'Gazeta Wyborcza‘ ihren ersten Bericht über das Mitteleuropaseminar, das an der Wroclawer Universität stattgefunden hatte - in der Aula Leopoldina, dem im schönsten exaltierten Barock erbauten Prunksaal der jesuitischen Gegenreformatoren. Nicht zu Füßen der Statue seiner Majestät, des Universitätsstifters Leopold, wo die Seminarteilnehmer die harten, schmalen Bänke der Jesuitenzöglinge drückten, spielte sich das Wesentliche dieser Veranstaltung ab, sondern auf den Straßen und in den Kneipen der Altstadt, in den Buchhandlungen und Galerien, im Gebäude der philologischen Fakultät, wo Hunderte von tschechischen Gäste eine improvisierte Unterkunft fanden, und nicht zuletzt in den Theatern und im Konzertsaal der Stadt. Die Veranstalter des Seminars und des Rahmenprogramms, die Aktivisten der noch zu Zeiten des Untergrunds entstandenen Gesellschaft für polnisch -tschechische Solidarität, hatten mit zwei- bis dreitausend Besuchern aus der CSSR gerechnet und - nur unterstützt vom Studentenverband der Solidarität - für private Unterkünfte in dieser Zahl gesorgt. Es kamen achttausend - und auf welchen Wegen sie kamen!

Die Taktik der CSSR-Grenzbehörden vorausahnend, hatten viele nicht Wroclaw als ihr Reiseziel angegeben, sondern sich Einladungen nach Dresden oder Leipzig besorgt, von wo sie ungehindert nach Polen weiterreisen konnten. Nicht wenige nahmen den Weg über die sowjetische Karpathenukraine, über Sambor oder Lemberg. Einige täuschten Trauerfälle vor und überquerten in schwarzer Kleidung die Grenze. Wer zurückgewiesen wurde, versuchte es ein zweites oder drittes Mal. Die CSSR-Grenzbehörden taten wirklich ihr Bestes, sie nahmen Hunderte fest, die naiverweise Grund und Ziel ihrer Reise nicht verheimlicht hatten, darunter einen alten Herrn von 82 Jahren, der es einfach satt hatte zu lügen; sie versuchten, der prominenten oppositionellen Reisenden habhaft zu werden, aber selbst dies gelang ihnen nicht in allen Fällen. Sie konfiszierten sämtliche Bilder einer geplanten Ausstellung - man stellte daraufhin die leeren Rahmen samt Namen und Biographien der tschechoslowakischen Künstler im Refectorium des St.Katharinenklosters aus.

Auf der Bühne die Verfemten des Prager Frühlings

Für viele der jungen Tschechen und Slowaken war Breslau die erste Möglichkeit, mit den Verfemten des Prager Frühling zu sprechen. Wo immer die 'Listy‘, die Zeitschrift der emigrierten Reformkommunisten verteilt wurde, wo immer Bücher zu haben waren, wo immer sich ein Oppositionspolitiker blicken ließ, gab es Menschentrauben. Die große Mehrzahl der jungen Leute kam natürlich auch wegen der angekündigten Rock- und Folkkonzerte. Unpolitisch war dieses Motiv aber keineswegs. Sie wollten den legendären tschechischen Liedermacher Karel Kryl hören, der von den Normalisierern vertrieben wurde, als sie noch nicht geboren waren. Sie wollten den Tschechen Svatopluk Karasek in Aktion sehen, den berufsverbotenen und ausgebürgerten Priester, der so unnachahmlich komisch „Say no to the devil!“ intoniert. Zu den beiden Liedermacherkonzerten im Teatr Polski erschienen jeweils dreitausend Leute. Sie überschütteten den etwas verlegenen Professor Frantischek Janouch, Physiker und Vorsitzender der Charta-Stiftung, mit Beifall, applaudierten jedesmal, wenn der Name eines Inhaftierten fiel - nicht nur bei den Underground-Künstlern im Gefängnis, sondern auch bei dem christlichen Publizisten Jan Canogurski, Tscheche, dessen Verbindung zur musikalischen Subkultur eher weitläufig ist. Als der in die BRD abgeschobene DDR -Oppositionelle Wolfgang Templin, auch er nicht gerade ein Gesangsstar, kurz auf der Bühne erschien, brach ein Beifallssturm ohnegleichen los. Es war der Abend nach der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz zu Berlin/DDR.

Nüchternheit und

neuer Regionalismus

Trotz der euphorischen Stimmung war bei Gesprächen ein nüchterner Grundton unter den Jugendlichen unüberhörbar. Die demokratische Bewegung ist auf Prag und dort auf die Intellektuellen beschränkt. Es gibt einen schroffen Bruch zwischen ihnen und der Generation ihrer Eltern, die nach der Okkupation 1968 resignierten und sich anpassten. „Unsere Nation“, sagte mir einer der Jungen, „ist unfähig, sich aufzulehnen.“ „Die Arbeiter rühren sich einfach nicht“, meinte ein Zweiter, um dann aber, als habe er Carlo Levi gelesen, hinzuzusetzen: „Wenn wir jetzt nicht auf die Straße gehen, wer soll es dann tun?“

Für ein Seminar über die Kultur Mitteleuropas „zwischen Totalitarismus und Kommerzialismus“, wie es im Titel hieß, bot Breslau ein ideales Ambiente. Trotz der Verwüstungen des 2. Weltkrieges ist dank der Kunst polnischer Restaurateure im Stadtbild noch immer die Vermischung schlesisch -gotischer, böhmisch-habsburgisch-barocker und preußisch -klassizistischer Elemente sichtbar. Die heutige Bevölkerung wurde zum großen Teil aus dem jetzt sowjetischen Lemberg (Lwow) vertrieben und die Intellektuellen dieser Stadt prägten in der Nachkriegszeit das geistige Leben des neuen Wroclaw. Neben der offiziös-marxistischen und der katholischen Strömung behauptete sich der strenge Positivismus der Lemberger Schule. Die Arbeiterklasse ist hier gut organisiert: Von insgesamt drei Millionen Solidarnosc-Mitgliedern leben allein sechshunderttausend im Großraum Wroclaw. Gleichzeitg protestieren hier - ein Einzelfall in Polen - kleine sozialistische und anarchistische Gruppierungen gegen die Kompromißlinie Walesas. Die Surrealisten der „Orange Alternative“ setzen ihre Happenings fort, aber ohne Mitwirkung der Polizei. Noch eines: Wie im übrigen Europa macht sich ein neuer Regionalismus breit. Die deutschen Schlesier mußten gehen, jetzt hört man aus polnischem Mund immer häufiger: „Wir Schlesier.“

Was nun?

Trotz der in der Aula Leopoldina versammelten Gelehrsamkeit stellte sich bei der Diskussion des Begriffs Mitteleuropa rasch die bekannte Unsicherheit, ja Hilflosigkeit ein. Ist er ein Begriff, der die prägenden Wertorientierungen in der Region Ostmitteleuropa zum Ausdruck bringen, der Identität stiften soll? Oder ist er Element einer politischen Strategie, die nach dem Zerfall der realsozialistischen Zwangsintegration für eine regionle Föderation eintritt, nicht zuletzt um ein Wiederaufleben der unseligen Nationalismen zu verhindern? Oder handelt es sich einfach nur darum, daß 40 Jahre politischer Unterdrückung und ökonomischer Misere gemeinsame Probleme geschaffen haben, die jetzt am besten gemeinsam gelöst werden sollten?

Am klarsten wurde die „politische Strategie Mitteleuropa“ zurückgewiesen. K. Woycicki, außenpolitischer Berater von Solidarnosc, wies nach, daß ostmitteleuropäische Föderationspläne stets einen regionalen polnischen Hegemonismus zum Hintergrund gehabt hätten und daß sie im übrigen heute auch unrealistisch seien. Denn jedes politische Konzept dieser Art sei zu schwach gegenüber der Dynamik, die künftig von beiden deutschen Staaten (oder von einem?) ausgehe. Der tschechische Philosoph Ivan Svitak führte eine scharfe Attacke gegen die Selbstgefälligkeit, mit der nach den drei Kapitulationen von 1938, 1948 und 1968 immer noch von den Traditionen einer demokratischen politischen Kultur in der Tschechoslowakei gesprochen werde. Er stimmte dem in England lebenden Journalisten George Urban zu, der dem Aufbau demokratischer Institutionen im Rahmen der bestehenden Nationalstaaten absolute Priorität einräumte.

Die Auseinandersetzung zwischen den „Kulturalisten“ und den „Politikern“ war das untergründige Hauptthema des Kongresses. Sie ließ etwas von dem Horror vacui ahnen, der nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus jetzt die Gemüter befällt. Verbirgt sich hinter der kulturell untermauerten These von der ostmitteleuropäischen Identität nicht Angst vor dem Chaos der nächsten historischen Phase, vielleicht sogar eine Reserviertheit gegenüber dem westlichen Modell von „freedom and democracy“? Umgekehrt: Verrät nicht die Begeisterung für das westliche Demokratiemodell Naivität? Übersieht sie nicht die Gefahren eines kommerzialisierten Lebensstils auch für die Entfaltung der politischen Kultur?

Listiger Realismus

Alles war noch so einfach, als Mitteleuropa für das Netzwerk der kleinen oppositionellen Gruppen stand, die sich im Kampf gegen den nationalistischen Abschottungskurs der realsozialistischen Machteliten miteinander verbanden. Was aber, wenn selbst in der CSSR die Oppositionellen fast gegen ihren eigenen Willen das Terrain „nationaler“ Politik betreten müssen?

Die Referate des tschechischen Religionsphilosophen Hejdanek und von Vaclav Havel waren von dieser Herausforderung bestimmt. Die Autoren hatten natürlich keine Reisepässe erhalten. Sie demonstrierten in ihren schriftlichen Beiträgen eindruckvoll selbstkritisches, realistisches, ganz und gar antiutopisches Denken. Vor allem Havel warnte vor der Selbstüberhebung des politischen Oppositionellen in dem Augenblick, in dem er zum ersten Mal die Unterstützung „der Massen“ spürt. Masaryk zitierend, bestand Havel auf der täglichen mühevollen Arbeit der Bewußtseinsbildung und auf einer Politik, die weiterhin dem individuellen Gewissensentscheid unterworfen bleibt. In listigem Realismus übte sich auch der Philosoph Milan Schimetschka aus Bratislava. Er ließ mitteilen, sein Traum von Mitteleuropa sei es, zum Bahnhof zu gehen, ohne von einem Zivilen gefragt zu werden, was er dort zu suchen habe, ein Billet zweiter Klasse zu lösen und dann ganz langsam nach Wroclaw zu fahren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen