Avantgarde oder verlorenes Häufchen?

SED-Versammlung im Ostberliner Lustgarten: Egon Krenz mobilisiert gegen Bürokraten und für die Einheit der Partei / Keine Zensur, aber wohlarrangierte Choreographie parteisozialistischen Neubeginns / Wichtigste Frage an diesem Abend war: Parteitag oder Parteikonferenz? / Krenz entschied sich für Parteikonferenz  ■  Aus Ost-Berlin A. Smoltczyk

Kalt war's im Lustgarten. Vom Dom klirrte gleißendes Licht, und die 60.000 rückten eng zusammen. Ringsum die Stadt war leerer als sonst, und über die verwaisten Trottoirs der Nebengassen echoten die alten Lieder: „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf...“. Die SED-Bezirksleitung hatte zur Großkundgebung aufgerufen, zum Neubeginn im Lustgarten, wo einst der Große Kurfürst die ersten Kartoffel pflanzen ließ: „Wir haben ein großes Werk vor, eine Revolution auf deutschem Boden, die uns einen Sozialismus bringt, der ökonomisch effektiv, politisch demokratisch, moralisch sauber und in allem den Menschen zugewandt ist“, rief Egon Krenz von den Treppen des Alten Museums, und die Menschen jubelten. Nein, sie seien keine „Weltenbummler, die drüben die Edeltürken spielen wollen“, wie sich ein 17jähriger Schüler ausdrückte, sie wollten die „Erneuerung“, die „Diktatur der Basis“ und vor allem: „Keine Spaltung der Partei“ - so die Losungen, die in die kalte Luft gehalten wurden.

Keiner der 15 Redner hatte - das wurde wiederholt betont seinen Beitrag dem Parteizensor vorlegen müssen. Dennoch entstand eine in sich stimmige Choreographie parteisozialistischen Neubeginns. Da war der Verkehrsmeister, der die Reisefreiheit begrüßte, sofern „die Kollegen am nächsten Morgen wieder pünktlich zur Arbeit erscheinen„; da war der weißhaarige Antifaschist, der Krenz den Segen gibt „wir wollten das Beste und haben dabei Fehler gemacht“, aber jetzt „müssen wir raus aus der Krise, arbeiten müssen wir“); und da fehlte auch nicht die Stimme der unschuldigen Jugend in Gestalt einer pferdebeschwänzten Schülerin, die sich nicht unter „die Kudamm-Spaziergänger“ mischen wollte, sondern „voll hinter Egon Krenz“ stünde und deshalb in die „endlich erwachte SED“ eintreten werde. Egon gibt prompt Küßchen.

Der Generalsekretär stand zwei Stufen über den Rednern, braungebrannt und bleckend, und hatte sich auf obstinates Kopfnicken verlegt: Immer wenn auf die manipulierten Kommunalwahlen angespielt, wenn ein Ende des Alleinregierens gefordert wurde, wenn die Schriftstellerin Ruth Werner den Hunderttausenden dankte, die das „langsame Aufwachen des Politbüros beschleunigt“ hätten - Egon nickte und klatschte, als hätte er mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun. So stellte er sich auch bescheiden mit „Ich heiße Egon Krenz, Kandidat der Partei seit Juni 1953“ vor, sobald die Reihe an ihn kam und er das von der ZK-Tagung beschlossene Aktionsprogramm vorstellte (siehe Analyse Seite 3).

„Anstand“, „Sauberkeit“, „Vordermann“ - das waren die Begriffe, die in den Reden immer wieder - und immer stark beklatscht - auftauchten. Die Mischung aus Puritanismus („geht in die Apparate arbeiten als saubere Sozialisten“, meinte Ruth Werner), Patriotismus und Populismus kam gut an im kalten Lustgarten, während die Landsleute wenig weiter in hedonistischer Kaufrausch schwelgten. Bürokraten und Begrüßungsgeldgeile - das waren die Buhmänner, gegenüber denen die Parteigenossen ihre Reihen zu schließen hätten.

Als der Charite-Arzt Thomas Montag allerdings die Prügelorgien der Volkspolizei am 7. und 8. Oktober beim Namen nannte, erntete er ohrenbetäubende Pfiffe: Das war zuviel des Guten, das grenzte an Nestbeschmutzung. Nein, reiner Tisch müsse jetzt gemacht werden, alle Differenzen zurückgestellt: „Ein Genosse hat gesagt: Ihr und wir. Tun wir alles, Genossinnen und Genossen, daß es ein Ihr und Wir niemals mehr gibt, sondern nur noch unsere Partei“, beschwor Krenz den Platz, und das Echo hallte halbsatzweise von den Wänden.

Trotz aller „Stunde-Null„-Rhetorik gab es ein Thema, das die SED-Anhänger zwischen Altem Museum und Volkskammer in zwei Lager spalten konnte: Die Frage „Parteikonferenz oder Parteitag?“. Professor Günter Bender vom Institut für Marxismus-Leninismus forderte die schnellstmögliche Einberufung eines Parteitags, denn nur dieser kann laut Statuten die Gesamtheit des ZKs erneuern. Eine Parteikonferenz ließe sich dagegen schneller, konkret: bis Mitte Dezember, veranstalten, könnte aber nur einzelne ZK -Mitglieder abberufen.

Egon Krenz blieb das letzte Wort vorbehalten. Nachdem er einige der Losungen von den Transparenten abgelesen („Nicht meckern, sondern ackern“, „Kollektiv handeln - ehrlich streiten“) und sie sich als „Sinn unseres Aktionsprogramms“ zu eigen gemacht hatte, entschied der Parteichef: „Machen wir das, was am besten und am schnellsten geht, und das ist unsere Parteikonferenz.“ Pfiffe und Beifall in gleichen Teilen.

Ob Krenz mit dieser Haltung durchkommt, ist zweifelhaft. Am Samstag schon forderten 6.000 SED-Mitglieder im aufmüpfigen Leipzig einen Sonderparteitag: „Ich will noch Genosse bleiben, darum die Schuldigen vertreiben“, hieß es auf den Transparenten.

Noch während Krenz vom Aufbruch redete, machten sich die ersten zur S-Bahn auf. „Stalin, Chruschtschow und zweimal die unsern - das ist jetzt meine vierte Erneuerung. Ich hab die Faxen dicke“, war jemand zu hören. Und daß er jetzt zu Hause seine Revolution machen wollte, wenn schon. Vom Lustgarten klang die Internationale“, und unter den trüben Lampen der Karl-Liebknecht-Straße war es bitter kalt. Und leerer als sonst.