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„Auch für Herrn Kohl gilt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“

■ Wortlautauszüge aus der vernichtenden Kritik Mompers an Kohls historischem Auftritt vor dem Schöneberger Rathaus in West-Berlin: „Denken von vorgestern“

Berlin (dpa) - Der Streit um das blamable Auftreten Kohls am Freitagabend vor dem Schöneberger Rathaus erreicht mit der harschen Kritik des regierenden Bürgermeisters Momper am Kanzler einen vorläufigen Höhepunkt. Nachfolgend Wortlautauszüge aus der Pressekonferenz Mompers am Samstag:

„Ich muß ihm, dem Herrn Bundeskanzler, ein eklatantes Versagen in dieser entscheidenden Situation der deutschen Geschichte vorwerfen. Wir haben hier erlebt, daß Herr Kohl, und das zeigt die Pressekonferenz auch wieder, es offenbar nicht vermag, die augenblicklichen Gefühle der Menschen zu treffen.

Er redet und denkt offenbar an den Gefühlen der Menschen in dieser historischen Stunde vorbei. Herr Kohl hat offenbar mit dem Umdenken, was jetzt gefordert wird, durch die Veränderung der Situation nicht nur in Osteuropa, sondern auch in der DDR mit der Reisefreiheit, noch nicht begonnen. Er ist weiterhin mit dem Denken von vorgestern verhaftet.

Auch für Herrn Kohl gilt, was der Generalsekretär Gorbatschow am 10. Oktober in Ost-Berlin sagte: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Herr Kohl hat unter anderem kritisiert, daß ich nicht seine Sprache spreche - politisch gesehen jetzt ... Er hat mir im Einzelnen vorgeworfen, daß ich vom Volk der DDR gesprochen habe. Das habe ich allerdings sehr bewußt gemacht. Es zeigt sich, daß Herr Kohl wohl eine tiefe Abneigung gegen die demokratische Bewegung in der DDR hat und die Ausübung des wirklichen Selbstbestimmungsrechtes. ...

... Und diese neugewonnene Identität der DDR-Bevölkerung oder des DDR-Volkes, die mag Herr Kohl zwar nicht fassen, weil sie nicht in seine Wiedervereinigungsvorstellung reinpaßt, sie ist aber gleichwohl Realität. Und auch Herr Kohl und alle anderen Politiker im Westen wären gut beraten, wenn sie das erkennen können.

... Herr Kohl hat offenbar nicht begriffen, ... daß die Menschen in der DDR nicht die Wiedervereinigung interessiert, sondern ein freies Europa mit offenen Grenzen. ... Gestern und heute sind nicht die Tage der Wiedervereinigung, sondern sind wirklich die Tage des Wiedersehens.

... Ich hätte es sehr begrüßt, wenn die Bundesregierung ihre Kraft in der Zeit seit dem 18. Oktober ... darauf verwendet hätte, Kooperation zwischen den beiden deutschen Staaten praktisch zu organisieren und sich einzurichten auf ein Leben in guter Nachbarschaft und eine demokratische DDR. ... Die Realität dessen, was die Bundesregierung getan hat an praktischen Maßnahmen, ist leider niederschmetternd.

... läßt diese Bundesregierung einen vollen Monat, 30 Tage, über 30 Tage ins Land gehen, ... quatscht dabei von Wiedervereinigung und nationaler Frage in der Zwischenzeit, ohne auch nur einen praktischen Schritt zu unternehmen. ...“

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