Der Dickfellige aus Oggersheim

Sozialdemokrat Harry Ristock (61) zum Pfeifkonzert gegen Bundeskanzler Kohl am Freitag vor dem Rathaus Schöneberg: „Eisiges Schweigen wäre besser gewesen“  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Ristock, Sie waren am Freitag auch auf der Kundgebung vor dem Rathaus, wie erklären Sie sich, daß Bundeskanzler Kohl so ausgepfiffen worden ist?

Harry Ristock: Ich kann das Verhalten der im großen und ganzen sehr jungen Meschen dort aus Respekt vor dem politischen Gegner - egal ob ich ihn mag oder nicht - nicht positiv beurteilen. Auch aus erzieherischen Gründen muß ich sagen, daß man in einer parlamentarischen Demokratie dem politischen Gegner die Möglichkeit geben muß, zu reden.

Wann haben die Berliner schon mal die Möglichkeit Kohl direkt ins Gesicht zu sagen, was sie von seiner Politik und seiner Wiedervereinigungsrethorik halten?

Das ist der Punkt wo das Publikum zu Recht reagiert hat. Aber diese Wiedervereingungsrhetorik, wie es Momper zu Recht nennt, betrifft nicht nur Kohl, sondern die ganze CDU. Das ist ein gefährliches Gefasel in diesem Moment über diese Frage. Man muß der Bevölkerung der DDR das Recht geben, die hat zu entscheiden und Selbstbestimmung auszuüben.

Stimmt es, daß auf der Kundgebung auch viele Sozialdemokraten waren?

Es war ein sehr gemischtes Stadtpublikum vor allem der jüngeren Generation, nicht nur ein SPD-Publikum, sondern auch ein AL-Publikum.

Der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer ist erst Tage nach dem Mauerbau nach Berlin gekommen. Hat kohl dafür jetzt auch noch die Rechnung gekriegt?

Das glaube ich nicht. Adenauer hatte ein anderes Kaliber, er war der Stadt gegenüber nicht sehr freundlich eingestellt, er hielt sie für eine heidnische Stadt. Das ist bei Kohl ein wenig anders, obwohl er sich auch wenig um die Sorgen und Nöten von Berlin kümmert. Aber ich wiederhole: Es ist gutes parlamentarisches, demokratisches Gehabe, daß man den Gast reden läßt. Man kann ihm auch mit eisigem Schweigen begegnen. Das ist ein sehr viel besseres pädagogisches Mittel, als ihn unverdrossen reden zu lassen.

Ein eisiges Schweigen wäre an Kohl doch abgeprallt.

Das kann sein. Dieser Dicke da aus Oggersheim ist natürlich dickfellig und hätte vielleicht überhaupt nichts begriffen.

Nach dem Mauerbau hat es zwischen dem damaligen Berliner Bügermeister Brandt und Adenauer eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Setzten Momper und Kohl das jetzt fort?

Willi Brandt stand hier völlig allein, weil auch die Westalliierten keine konkrete Hilfe gaben. Es war ein unglaublicher Affront, daß Adenauer nicht mit dem ersten Flugzeig nach Berlin gekommen ist. Das ist aber nicht mit Kohl vergleichbar. Kohl ist ja gekommen. Momper wirft Kohl vor, daß dieses Wiedervereinigungsgerede niemanden hilft.

plu