Erstes wirkliches Volkskammerplenum

■ Stasi-Chef zappelt vor der Volkskammer / Doch keine bohrende Fragen / Blockparteien fordern Streichung der „führenden Rolle“ der SED aus der Verfassung Untersuchungsausschuß zu Ämtermißbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung eingerichtet / Nächste Wahl ohne SED-U-Boote aus Massenorganisationen

Berlin (taz) - Wie Macht zerrinnt, konnte man gegen Ende der Volkskammertagung am Montag abend beobachten. Es sprach der noch amtierende Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke (81). Um seinen Auftritt zu verstehen, muß man etwas weiter zurückgehen. Am Vorabend war im DDR-Fernsehen die Aufzeichnung einer Lesung von Walter Janka's Schwierigkeiten mit der Wahrheit ausgestrahlt worden.

Janka, Spanienkämpfer und Leiter des Aufbau-Verlages, war 1957 in einem Schauprozeß zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Vernommen, gequält und gedemütigt worden war er von dem „Bekannten“, den er schon seit der gemeinsamen Zeit in Spanien nicht mehr als Kommunisten betrachtete. Dieser „Bekannte“, der seit Ende der 40er Jahre alle Schauprozesse und viele Geheimprozesse in der DDR inszeniert hatte, der nicht nur Teil des Apparates war, sondern Täter im unmittelbar-praktischen Sinne des Wortes, stand nun vor den Abgeordneten und sollte über seine „Arbeit“ berichten. Der alte Mann zappelte fahrig hinter dem Rednerpult hin und her, redete die Abgeordneten mit „Genossen“ an und mußte dafür eine Rüge einstecken. Er habe immer nur das Beste für die „Arbeiterklasse“ gewollt, für den Frieden gekämpft und Korruption aufgedeckt. Und für die Bevölkerung war die „Stasi“, wollte man ihrem Chef glauben, eine Art Ombudsman, der seine vielen Ohren berechtigten Klagen lieh, doch dessen Informationen von den „zuständigen Stellen“ leider ignoriert wurden.

Die Abgeordneten reagierten mit Unruhe und verhaltenem Gelächter. Doch keiner stellte genauere Fragen, und der frischgebackene Volkskammerpräsident Maleuda war sichtlich bemüht, diese Figur wieder ins Dunkel zu entlassen.

Zuvor hatte, wie der SED-Abgeordnete Fichtner zu Recht feststellte, „eigentlich die erste Plenartagung der Volkskammer“ stattgefunden. Nicht nur der knappe Sieg Maleudas über Gerlach bei der Wahl des neuen Volkskammerpräsidenten, sondern auch die folgende Debatte war kontrovers.

Nachdem der neugewählte SED-Fraktionsvorsitzende Jarowinsky noch einmal das „Aktionsprogramm“ der SED vorgestellt hatte, sprachen die Vertreter der Blockparteien. Alle beklagten sie die bisherige Mißachtung des Parlaments und prangerten den Umstand an, daß die Volkskammer erst jetzt zusammengerufen worden war. Schon Jarowinsky hatte vage von der Notwendigkeit einer „Verfassungsänderung“ gesprochen. Die Vertreter der Blockparteien wurden deutlicher: Sie forderten Streichung jener Passage in Artikel 1 der Verfassung, in dem die SED ihre „führende Rolle“ institutionalisiert hatte. Von dem „demokratischen Block“ war nicht mehr die Rede und die „Nationale Front“ soll nach Meinung von Lothar Kolditz, dem Präsidenten ihres „Nationalrates“, eine neue Funktion erhalten, welche ist freilich noch offen. Einhellig war auch die Forderung nach Zulassung der neu entstandenen Bürgerrechtsgruppen. Für die nächsten Wahlen forderte die Abgeordnete Christine Wieynk zudem, daß keine Partei sich über die Mandatsträger anderer Organisationen eine „Überrepräsentation“ verschaffen sollte. Das richtete sich natürlich gegen die SED-U-Boote in den „gesellschaftlichen Organisationen“.

Weite Teile der anschließenden Debatte waren wirtschaftlichen Problemen gewidmet (siehe S.9). Einstimmig wurde zum Schluß der Tagung die Einrichtung eines zeitweiligen Untersuchungsausschusses beschlossen, der Fälle von Amtsmißbrauch, Korruption, ungerechtfertigter persönlicher Bereicherung sowie anderer gesetzwidriger Handlungen aufklären soll.

Walter Süß