: Neuer Frühling für Berliner Wissenschaft?
■ Kooperation zwischen West- und Ost-Berliner Hochschulen geplant / Prorektor der Humboldt-Universität: Neuorientierung in den DDR-Sozialwissenschaften / Marxistische Ausbildung nicht mehr obligatorisch / Bald Rehabilitierung von relegierten Wissenschaftlern?
Eine Kooperation zwischen Berliner Forschungseinrichtungen Ost und West ist seit vorgestern ein Stückchen näher gerückt. AL und GEW hatten den Prorektor der Ost-Berliner Humboldt Universität, Prof. Dieter Klein, eingeladen, um über „Entwicklungstendenzen der gesellschaftwissenschaftlichen Forschung und Lehre“ an seiner Universität zu sprechen. Das Gespräch mit West -Wissenschaftlern war schon seit dem Sommer geplant und bekam durch die aktuellen Ereignisse in der DDR eine etwas andere Stoßrichtung. Vor einem Publikum von über 300 Menschen wurde zum Teil heftig über Perspektiven der DDR und der Wissenschaft in der DDR diskutiert.
Für eine Kooperation zwischen West- und Ost-Berliner Hochschulen sollen bis zum Jahresende Themen und Forschungsprojekte sondiert werden, die dann im einzelnen geprüft werden sollen, so AL Wissenschaftsexpertin Hilde Schramm. Dem Vortrag Kleins vorausgegangen war ein gemeinsames Abendessen mit Wissenschaftlern von TU, FU und FHW, bei dem beschlossen wurde, in einzelnen Fachbereichen und in den Präsidialämtern vorzusprechen. Wie der OSI -Professor und poentielle FU-Vizepräsident Werner Väth gegenüber der taz erklärte, kämen für die FU vor allem sechs Bereiche für eine Zusammenarbeit in Frage: Das Gebiet der Ökonomie (etwa Währungsfragen, Arbeitsmarktprobleme), Fragen der Stadtentwicklung, Probleme der europäischen Linken, Frauenforschung, der Bereich Rechtsradikalismus/Faschismusforschung sowie der institutionelle Umbau durch soziale Bewegungen.
In seinem Vortrag führte Klein aus, daß in der sozialwissenschaftlichen Forschung in der DDR ein grundlegender Wandel bevorstehe. „Eine obligatorische marxistisch-leninistische Ausbildung ergibt keinen Sinn mehr“, so Klein. Die Universitätsleitung habe sich bereits darauf verständigt, in diesem Semester die Benotung in den entsprechenden Kursen auszusetzen. Eine Neuorientierung soll es nach Ansicht Kleins in der gesamten Grundlagenforschung geben, etwa im Bereich der Friedens- oder der Frauenforschung. Das Fortschrittskonzept des Marxismus müsse grundlegend in Frage gestellt werden und sich künftig nicht nur am technisch machbaren, sondern auch am ökologisch und und sozial beherrschbaren Wachstum orientieren.
Als Zeichen für mehr Demokratie an den Hochschulen in der DDR wollte es Klein verstanden wissen, daß sich an seiner Uni derzeitig autonome Studentenvertretungen und ein Studentenrat außerhalb der FDJ bilden. Die Unileitung habe bereits Wahlen von universitären Gremien verschoben, da von studentischer Seite nicht genug Mandatsträger ernannt werden konnten.
In der Diskussion hatte es das langjährige SED-Mitglied Klein nicht leicht. Er wurde aufgefordert, der Umwelt -Bibliothek Unterstützung zu gewähren und das Wissen der Oppositionsbewegung nicht nur jetzt für die Partei zu vereinnahmen, sondern sie als gleichberechtigte Partner anzuerkennen.
Klein kündigte auch auf Fragen aus dem Publikum an, daß Wissenschaftler, die in der Vergangenheit wegen abweichender Haltungen von den Universitäten relegiert worden waren, rehabilitiert werden sollen. Ihm wurde vorgeworfen, sich in den siebziger Jahren, als er auch schon in der Hochschulleitung war, nicht schützend vor Andersdenkende gestellt zu haben. Auf die Anfrage einer ehemaligen DDR -Historikerin im Saal nach einer eventuellen Rückkehr an die Universitäten antwortete er: „Wenn Sie wollen, können Sie zurückkommen“.
kd
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