: „Mit Lenin stritt er sehr viel...“
■ Ein Gespräch mit Anna Larina Bucharina, der Witwe Nikolaj Bucharins
Im Jahre 1938 wurde Nikolaj Iwanowitsch Bucharin hingerichtet, nachdem Stalin einen seiner größten Schauprozesse gegen den Mitstreiter aus Revolutionstagen inszeniert hatte. Damit war einer der originellsten Köpfe des sowjetischen ZK, ein glänzender Ökonom, Redner und Chefredakteur der 'Iswestija‘, tot. Wie alle Angehörige prominenter Stalin-Opfer wurde auch Bucharins Frau Anna Larina festgenommen. Man wollte von ihr das öffentliche Bekenntnis, ihr Mann sei ein Volksfeind und Anführer eines rechtstrotzkistischen Blocks gewesen.
Bucharins wirkliche „Schuld“ bestand darin, daß Lenin ihn als Nachfolger favorisiert hatte. Hinzu kam, daß er Stalins Industrialisierungs- und Kollektivierungsplänen widersprach. Das mußte auch Anna Larina büßen: Stalin ließ sie zwanzig Jahre in seinen Gefängnissen verschwinden. Erst unter Chruschtschow wurde sie wieder freigelassen und kämpfte erfolgreich um Bucharins Rehabilitierung. Letztes Jahr wurde ihr Mann posthum wieder in die Partei aufgenommen. Anna Larina Bucharina hat jetzt ihre lebenserinnerungen Nun bin ich schon weit über zwanzig im Steidl-Verlag herausgebracht (320 Seiten, 38,- DM). Anläßlich der Frankfurter Buchmesse kam sie zu einer Lesereise nach Deutschland. Jürgen Berger hat mit ihr gesprochen.
Frau Bucharina, Sie sind jetzt fast eine Woche hier in der Bundesrepublik. Wie sind ihre Eindrücke?
Ich habe leider nicht so viel gesehen, da ich ständig unterwegs bin, viel in Hotels wohne und Interviews gebe. Doch ich habe den Eindruck gewonnen, daß Ihr Land sehr gut organisiert ist. Aber das ist ja eine bekannte Eigenschaft der Deutschen. Ja, und natürlich hat alles Technische ein hohes Niveau, wir in Rußland haben es noch weit bis dahin.
Kam Ihnen die Organisation übertrieben vor?
Das russische Volk hat in dieser Beziehung schon einen anderen Charakter. Doch jeder muß sich auf seine Art wohl fühlen.
Gorbatschow will das technische Niveau der westlichen Industrien erreichen. Dadurch werden auch bei Ihnen die Umweltprobleme noch mehr zunehmen. Unterstützen Sie diese Politik ohne Einschränkungen?
Wenn man heute auf die Krim kommt, wo die Luft einmal so herrlich war, dann ist das schon schlimm. Aber ich begrüße Gorbatschows Politik und wünsche ihm viel Erfolg, denn er hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sehen Sie, ich habe mein Buch schon vor der Perestroijka geschrieben, aber kann es erst jetzt veröffentlichen. Und auch, daß wir hier miteinander sprechen können, haben wir dem Umgestaltungsprozeß unter Gorbatschow zu verdanken.
Dank der größeren Freiheiten feiert auch die russisch -orthodoxe Kirche eine Renaissance. Beunruhigt Sie das?
Nein, davor habe ich keine Angst. Allerdings gibt es bei uns auch immer mehr Heuchler, und es wird Mode, sich ein Kreuzchen umzuhängen. Jeden echten Glauben aber, wie auch den bolschewistischen, muß man achten. Die alten Bolschewiki waren reine Menschen, die an die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft glaubten, und es waren helle Köpfe. Hätte man sie nicht umgebracht, sähe unsere Gesellschaft heute ganz anders aus.
Sie unterscheiden bei den Bolschewiki ganz klar. Auf der einen Seite Lenin und Ihr Mann, Bucharin, auf der anderen Stalin. Aber hatte nicht schon Lenin sehr weitgreifende Industrialisierungspläne, die etwas Totalitäres an sich hatten?
Niemand war damals gegen die Industrialisierung, doch verordnete Stalin dann solch ein Tempo, daß sie so viele Menschenopfer fordern mußte. Es gibt heute wissenschaftliche Anaylsen, was gewesen wäre, wenn man stattdessen auf Bucharin, Rykow und Tomskij gehört hätte. (Rykow und Tomskij waren wie Bucharin Mitglieder des ZK und wurden mit ihm liquidiert.) Es sind Statistiken veröffentlicht worden, die besagen, daß unter Berücksichtigung der ökonomischen Proportionen die Industrialisierungspläne zum Teil nur ein Jahr später erfüllt worden wären, aber ohne die Opfer.
Die Sowjetunion ist ein riesiges Land mit den unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen. Kann man da überhaupt zentral planen, wie und wo industrialisiert werden soll?
Warum nicht? Im Gegenteil, die Unterschiede sind sogar gut. Leider ist es zur Zeit so, daß viele Menschen in einigen Republiken meinen, sie müßten ihre Denkweise von ihrer Nationalität abhängig machen. Ich kann es keineswegs gutheißen, daß solch ein mystisches Natinalgefühl die Oberhand gewinnt. Das ist ein Mangel an Kultur. Sehen Sie nur die Folgen: das Blutbad unter den kaukasischen Völkern, die Aserbaidschaner sperren die Eisenbahnverbindungen, so daß jetzt Hunger in Armenien herrscht. Daß wir so etwas am Ende des 20. Jahrhunderts erleben müssen, betrübt und bedrückt mich sehr. Das alles ist umso unverständlicher, wenn sie bedenken, wie stark sich die Nationalitäten bei uns schon vermischt haben - Russen mit Letten, Aserbaidschaner mit Armeniern.
Können Sie nicht verstehen, daß diese Republiken Selbständigkeit wollen?
Nein, das verstehe ich nicht, weil Selbständigkeit in Gleichberechtigung eingeschlossen ist. Daß diese Gleichberechtigung noch hergestellt werden muß und in dieser Hinsicht bisher viel versäumt wurde, das stimmt. Die Nicht -Gleichberechtigung der Nationalitäten hat bei uns eine lange Tradition und existierte schon zur Zarenzeit. Unter Stalin und auch später haben die Partei und der administrative Apparat dann ebenfalls Fehler in bezug auf die kleinen Nationalitäten gemacht. Jetzt haben wir das Ergebnis. Wie man das korrigieren kann, weiß ich nicht.
Sie selbst sprechen in diesem Zusammenhang immer wieder an, daß es in der Sowjetunion zunehmend auch Antisemitismus gibt, selbst unter russischen Schriftstellern.
Ja, es gibt übertrieben Russophile, die sich in der Gesellschaft „Pamjat“ (Gedächtnis) zusammengeschlossen haben. Und es gibt auch einzelne, sehr begabte russische Schriftsteller, die zweifellos Antisemiten sind. Aber wir haben jetzt Pressefreiheit, und man kann lesen, was sie schreiben.
Könnten Sie sich vorstellen, eine Bürgerbewegung gegen Antisemitismus zu gründen?
Nein. Dafür müßte ich etwas jünger sein. Wissen Sie, ich bin schon einige Jahre in Rente und habe das Meine erlebt. Ich habe meine ganze Kraft für die Rehabilitierung von Bucharin eingesetzt, und das war eine schwierige Sache. Was jetzt zu tun ist, das machen Gorbatschow und seine Mitarbeiter. Die kämpfen gegen diese Strömungen. Ich selbst bin doch keine so einflußreiche Persönlichkeit.
Wenn Sie heute zurückblicken, würden Sie sagen, Bucharin hat damals etwas falsch gemacht? War es zum Beispiel ein Fehler, daß für ihn die Einheit der Partei oberstes Gebot war?
Das war ja nicht immer so. Mit Lenin stritt er sehr viel, obwohl sie Freunde waren und einander sehr schätzten. Das heißt, es gab unterschiedliche Meinungen in der Partei. Nach dem Tod Lenins allerdings konnte Bucharin seine Vorstellungen nicht mehr materialisieren. Hinzu kam, daß der Faschismus in Deutschland heraufzog. Bucharin, Rykow und Tomskij stellten angesichts dieser Bedrohung nicht so sehr die Einheit der Partei in den Vordergrund, sondern die Einheit aller sozialistischen Kräfte.
Warum hat Bucharin seine Machtposition in der Partei nicht besser ausgebaut?
Er bevorzugte eine milde Führung, und das waren die Leute nicht gewohnt. Sie wollten eine starke Hand, wie Stalin sie hatte. Das russiche Volk lebte 300 Jahre unter der Dynastie der Romanows und war die Demokratie nicht gewohnt. Bucharin war ein weicher Mensch, Stalin ein treuloser. Daß Stalin sich als Verbrecher entpuppen würde, das konnte sich keiner vorstellen, außer vielleicht Trotzkij.
Die Verbrechen kommen erst heute ans Licht. Ihr Buch ist auch deshalb wichtig, weil es von den Opfern berichtet. Warum erscheinen Ihre Erinnerungen erst nach der deutschen Weltpremiere auch in der Sowjetunion als Buch?
In einer gekürzten Zeitschriftenfassung erschienen sie ja bereits letztes Jahr. Daß man diese Fassung in der Sowjetunion als Buch veröffentlicht, habe ich untersagt, und zwar ganz einfach deswegen, weil der Redakteur der Zeitschrift 'Snamija‘ sich aus Platzgründen weigerte, meine vielen historischen Fußnoten zu veröffentlichen.
Haben Sie heute noch Kontakt zu Personen, die wie Sie Stalins Terror überlebten?
Von denen, die ich im Buch beschreibe, lebt heute noch Viktoria Rudina. Sie ist schon 86 Jahre alt, schwerkrank und bettlägerig. Nach meiner Entlassung hatte ich sehr freundschaftliche Beziehungen mit der Frau des Kommandeurs Jakir und wir trafen uns auch. Aber es werden immer weniger, da ich damals eine der jüngsten war. Es mag für Sie vielleicht unverständlich klingen, aber ich habe eigentlich ein Glückslos in der Lotterie gezogen. So furchtbar alles war, mich hat man nur in den Gefängnissen isoliert. Wie viele aber sind sofort erschossen worden.
Übersetzung: Anton Hönig
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