„Angst haben wir vor denen da oben“

■ Die Bevölkerung San Salvadors wird vor jedem Angriff der Armee evakuiert / Aus San Salvador Ralf Leonhard

Mejicanos, eines der dichtbesiedelten Arbeitervororte von San Salvador, bietet ein Bild wie nach dem Erdbeben von 1986: ganze Häuserreihen liegen in Trümmern. Durch die internationale Empörung über das Massaker im Jesuitenkonvent ist Alfredo Cristiani mächtig unter Druck geraten: Kongreßmitglieder in Washington fordern, die US-Millionen für El Salvador zu streichen, falls der Präsident die Todesschwadronen nicht unter Kontrolle bekomme. Die Bemühungen um einen Waffenstillstand kommen nur zögerlich in Gang; die katholische Kirche soll nun zwischen beiden Lagern vermitteln.

San Salvador, Samstag, den 18. November. Der Gestank des seit Wochen am Straßenrand stehenden Hausmülls vermischt sich mit dem Geruch von verbranntem Fleisch. An der Straßenecke liegt der Leichnam eines Guerilleros, den die Soldaten im Zuge einer „Säuberungsaktion“ angezündet haben. „Wegen der Seuchengefahr“, erklärt einer der Soldaten des Atlacatl-Elitebataillons, das am Freitag in einer siebenstündigen Schlacht den Westteil von Mejicanos erobert hat. Mejicanos ist einer der dicht besiedelten Arbeitervororte im Norden von San Salvador, die seit Beginn der Großoffensive der Befreiungsfront FMLN am 11.November heiß umkämpft sind. Strategische Kreuzungen sind mit ausgebrannten Bussen oder Pflastersteinen blockiert. „Achtung vermint“, steht auf einer dieser Barrieren. Die Straßen sind übersät mit Glasscherben, abgerissene Stromleitungen hängen überall von den Masten herunter. Mejicanos bietet ein Bild wie nach dem Erdbeben vom 10.Oktober 1986. Nach vorläufigen Schätzungen sind etwa 500 Häuser zerstört worden.

„Hier war der Kommandoposten der Guerilleros“, lacht ein Uniformierter, der unter dem Vordach einer Villa steht, die jetzt der Armee als Stützpunkt dient. „Keine Gefahr, hier ist jetzt alles ruhig“, versichert er. Langsam kehren die Einwohner der umliegenden Gassen aus provisorischen Unterschlupfen in ihre Häuser zurück. Manche finden allerdings nur Trümmer vor. „Mein Haus - wo soll ich nur hin?“ heult eine Frau vor den rauchenden Überresten ihrer Wohnstätte, die von den Bombardements der Luftwaffe getroffen wurde. In dem „Haus“ nebenan hängen die zerborstenen Welleternitplatten des Daches ins Wohnzimmer hinein. Das Wasser vom letzten Regen steht knöcheltief in den Räumen. Ganze Häuserreihen sind durch Löcher in den Wänden miteinander verbunden.

„Sagt ihnen doch, sie sollen nicht bombardieren. Hier leben Zivilisten“, ruft der Sprecher einer Gruppe, die sich vor einer Haustür versammelt hat. Wenige Meter entfernt tauchen zwei uniformierte Guerrilleros auf, die Gesichter mit blauen Tüchern verhüllt. „Die tun uns nichts“, versichert eine junge Frau, „Angst haben wir vor denen da oben.“ Sie deutet auf den wolkenlosen Himmel, wo ein A-47-Kampfflugzeug zu sehen ist, das bedrohlich brummend seine Kreise zieht. Im Hintergrund vernimmt man das Knattern von Maschinengewehrfeuer aus einem der Nachbarbezirke. Die beiden FMLN-Kämpfer sind zwei wortkarge 16jährige, deren Einheit in einem vierwöchigen Marsch aus der Nordprovinz Chalatenango in die Hauptstadt gekommen ist - eine Kolonne von 300 KämferInnen. Die beiden jugendlichen Muchachos bilden den Vorposten, wenige hundert Meter vom Armeestützpunkt entfernt. Auch die Zivilisten bewegen sich hier am liebsten nur in Gruppen und mit weißen Fahnen versehen. Wenn die ersten Schüsse zu hören sind, kann es schon zu spät sein. Das mußte am Freitag am Rande der Kampflinien von Mejicanos der britische Korrespondent David Blundy erfahren, der dort in einem plötzlich ausbrechenden Kreuzfeuer so schwer getroffen wurde, daß er wenige Stunden später seinen Verletzungen erlag.

Evakuierungen

vor jedem Angriff

Über eine steile Treppe am Ende einer Sackgasse gelangt man zum nächsten Guerillaposten, der die umliegenden Straßen überblicken kann. Gleich dahinter ruhen ein paar FMLN -Kämpfer im Schatten eines Vordachs. Sie studieren fotokopierte Stadtpläne; die Leute, die von den nördlichen Kriegsschauplätzen heruntergekommen sind, kennen sich in San Salvador nicht aus. Jesus Barquero, ein 35jähriger Veteran, der hier das Kommando führt, ist zuversichtlich: „Wir halten unsere Stellungen und werden weiter auf die Stadt vorrücken.“ Ziel der Aktionen sei momentan, die Armee auszubluten. Während die FMLN mit Scharfschützen wichtige Positionen stundenlang verteidigen kann, setzt die Armee mehrere Kompanien und schwere Artillerie ein, um in aufreibenden Gefechten ein paar Häuserblocks zu erobern. Diese Taktik erlaubt es den Guerilleros, Munition zu sparen und sofort neue Stellungen zu beziehen. „Wir sind für den Waffenstillstand, um den sich die Kirche bemüht“, erklärt Jesus die offizielle Position der FMLN, „doch verlangen wir, daß wir in den eroberten Stellungen bleiben dürfen.“ Stolz trägt Jesus ein Patronenhalfter mit dem Aufdruck USA, das er bei der Einnahme des Militärpostens von Mejicanos erbeutet hat. „Die Bombardements können uns kaum was anhaben“, erzählt er, „weil wir wissen, wie wir uns bewegen müssen. Unter den Zivilisten gibt es mehr Opfer, weil die meistens in Gruppen bleiben und ein besseres Ziel abgeben.“ Aus diesem Grund evakuiert die Guerilla vor jeder Attacke der Militärs die Bevölkerung. Die Regierungsstreitkräfte wissen, daß die Leute die Muchachos unterstützen und versuchen, Spitzel einzuschleusen. Ein Agent, der sich als Frau verkleidet hatte, wurde identifiziert und erhenkt. Sein Leichnam, mit Perücke und Nylonstrümpfen bekleidet, lehnt an einer Häuserwand und dient etwaigen Informanten als makabre Abschreckung. Plötzlich kommt eine Gruppe von Evakuierten die Straße heruntergelaufen. Sie schwenken weiße Fahnen, haben ihre wenigen Habseligkeiten unter dem Arm oder tragen sie in einem Sack auf dem Kopf und suchen Schutz vor einem erwarteten Luftangriff. Die Detonationen der Raketen kommen näher.

Brandbomben gegen

die Zivilbevölkerung

In einer Woche Gegenoffensive hat die Armee soviel Munition verpulvert, daß sie bei den USA dringend um Nachschub bitten mußte. US-Botschafter Walker sprach von Munitionsarten, die die Regierung angefordert habe, darunter auch „ein besonderer Typ“, über den er jedoch nichts Näheres enthüllen wollte. In den vergangenen Nächten haben Waffenexperten den Einsatz von Sprengkörpern beobachtet, die sie als Phosphorbomben identifizierten. Auch Edgar Palacios, ein Baptistenpfarrer und Koordinator des „Ständigen Komitees für den Nationalen Dialog“, einer Initiative von Kirchen und den wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen, die für eine friedliche Konfliktlösung eintreten, beschuldigte die Armee, Brandbomben aus weißem Phosphor in besiedelten Gebieten einzusetzen.

Dem Atlacatl-Bataillon gelang es Samstag nachmittag in einer aufwendigen Schlacht, einige Straßenzüge zurückzuerobern, während die Guerrilleros im einem benachbarten Stadtteil untertauchten. Ein militärischer Sieg über die Guerilla ist daher nicht abzusehen. Freitag räumte die FMLN zwar ihre Stellungen im Bezirk Zacamil, die sie fünf Tage lang verteidigt hatte. Gleichzeitig jedoch stärkte sie ihre Positionen im nordöstlichen Vorort Apopa, den sie weitgehend in der Hand hat. In San Miguel, etwa 140 Kilometer östlich der Hauptstadt, schoß die Guerilla am Samstag eine A-37-Maschine ab, die die umkämpften Stadtteile bombardiert hatte. Präsident Cristiani und die Armeeführung versuchen durch eine strenge Zensur der nationalen Medien und das totale Sendeverbot für die Radiosender die militärisch wie politisch ungünstige Lage zu verschleiern. Doch auch der nicht unmittelbar betroffenen Bevölkerung ist längst klar, welchen Wahrheitsgehalt die Erfolgsmeldungen des Armeesenders haben. Den Guerilleros von Mejicanos glaubt man ihre Zuversicht, wenn sie gut gelaunt behaupten: „Wir denken nicht daran, uns wieder zurückzuziehen.“