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Göttingen und das Netz neofaschistischer Aktivitäten

Ausgangspunkt des Polizeieinsatzes, bei dem Cornelia W. am Freitag abend starb, war eine Prügelei zwischen rechtsradikalen Skinheads und linken AntifaschistInnen. Seit Monaten sind Göttingen und einige umliegende Dörfer vermehrt Schauplätze von Übergriffen neo-nazistischer Gruppen auf AusländerInnen, AsylbewerberInnen und Einrichtungen der linken und alternativen Szene.

Kaum ein Wochenende vergeht ohne Auftritte der Rechtsradikalen; kaum ein Wochenende indes auch ohne Gegenwehr und Selbsthilfemaßnahmen von AntifaschistInnen vor allem aus dem autonomen Spektrum. Eine Chronologie der vergangenen Monate:

22.Juli: Auf einem Grillplatz des Dörfchens Wiershausen versammeln sich etwa 50 Neonazis zu einer Feier. Am späten Abend wird ein Streifenwagen aus einem in der Nähe gelegenen Kornfeld beschossen. Ein paar Wochen darauf nimmt die Polizei einen der Tat verdächtigen Skinhead fest, läßt ihn aber später wieder „mangels Beweise“ laufen.

29.Juli: Eine Gruppe von 15 rechtsradikalen Jugendlichen, die durch anhaltendes „Karussellfahren“ in einem Göttinger Verkehrskreisel aufgefallen ist, wird nach einer kurzen Verfolgungsjagd von der Polizei gestellt. Die Beamten beschlagnahmen Gaspistolen, Messer und Baseballschläger.

5.August: Vor einer Diskothek in der Innenstadt kommt es zu einer Schlägerei zwischen Neonazis und Autonomen.

25.August: Die Staatsanwaltschaft erläßt Haftbefehl gegen einen 20jährigen, als Rechtsextremist bekannten Fernsehtechniker. Der Mann soll versucht haben, im Mai in der Gemeinde Nörten-Hardenberg einen libanesischen Asylbewerber zu überfahren.

9.September: An diesem Nachmittag bewirft eine Gruppe junger Neonazis in einem Park Spaziergänger mit Flaschen. Später am Abend beschießen etwa zehn Skinheads das Jugendzentrum Innenstadt (Juzi) mit Signalmunition und überfallen Diskothekenbesucher mit Stöcken und Tränengassprühgeräten. Nach einer sich anschließenden Schlägerei, in der sie den kürzeren ziehen, nehmen die Rechtsradikalen an einer 17jährigen „Rache“: Die junge Frau muß mit Arm- und Nasenbeinbruch sowie Rippenquetschungen ins Krankenhaus eingeliefert werden.

11.September: Ein stadtbekannter Neonazi wird von einigen Autonomen verprügelt. Die Polizei nimmt vier in antifaschistischen Zusammenhängen arbeitende Personen fest und hält sie nach erkennungsdienstlicher Behandlung bis zum darauffolgenden Morgen in Gewahrsam.

23.September: Ungefähr 20 Neonazis, verstärkt um Skinheads aus Hannover, versammeln sich in einer Gaststätte. Zunächst kommt es auf der Straße vor der Kneipe zu Auseinandersetzungen mit Linken. In den Morgenstunden zieht eine Gruppe von Rechtsradikalen in Richtung des Jugendzentrums Juzi. Die Polizei nimmt sechs Skinheads in sogenannte „Schutzhaft“.

7.Oktober: Aktionstreffpunkt der Rechtsextremisten ist an diesem Samstag die Gemeinde Adelchsen. Bei einem Überfall verletzen sie einen Jugendlichen so schwer, daß dieser mehrere Knochenbrüche davonträgt.

14.Oktober: Vor ihrer Stammkneipe in der Göttinger Innenstadt beschießen Skinheads und andere Rechte Fußgänger mit Signalmunition. Beim Versuch, zum Juzi zu gelangen, werden die Neonazis von der Polizei aufgehalten. Später stoppen Autonome einen Stadtbus, in dem die Rechtsradikalen unterwegs sind, mit Krähenfüßen.

17.November: Nach einer Prügelei zwischen Neonazis und Autonomen verfolgen Polizeibeamte eine Gruppe Autonomer durch das Stadtzentrum. Bei dem sich anschließenden Einsatz wird die 24jährige Studentin Cornelia W. von einem Auto überfahren und tödlich verletzt.

Auf der Kundgebung im Anschluß an die vorgestrige Demonstration in Göttingen gingen mehrere Redner scharf mit der Lokalpresse ins Gericht: sie reduziere die vermehrten neonazistischen Aktivitäten auf einen Bandenkrieg zwischen rivalisierenden Jugendgangs, ein eher soziales Problem also. Tatsächlich aber bestehen in der Region seit Jahren straff organisierte neofaschistische Zusammenhänge, aus denen heraus die Rechtsradikalen agieren.

Bis 1986 residierte in der Göttinger Burgstraße eine Nazizentrale von bundesweiter Bedeutung. Hier hatten u.a. die „Hochschulgruppe Pommern“ und der „Studentenbund Schlesien“ ihr Domizil. Unter der maßgeblichen Führung des NPD-Funktionärs Hans-Michael Fiedler wurde von der Burgstraße aus der Aufbau rechtsradikaler Schüler- und Studentenbünde vor Ort, aber auch bundesweit koordiniert. Göttingen galt als intellektuelle Kaderschmiede für zahlreiche faschistische Organisationen in der BRD.

Nach monatelanger Observation durch den Verfassungsschutz hob die Polizei im April dieses Jahres die „Wehrsportgruppe Mündener Stahlhelmbund“ aus. In einer groß angelegten Aktion durchsuchten die Beamten Wohnungen in Hannoversch-Münden, Hannover sowie einigen nordhessischen Gemeinden und nahmen 15 Personen fest. Schuß- und andere Waffen, Munition, Propagandamaterial und „Marschbefehle“ für militärische Übungen konnten beschlagnahmt werden. Die Gruppe wird unter anderem für Schießübungen und Sprengstoffanschläge auf Bahnschienen verantwortlich gemacht.

Schließlich existiert in dem Dorf Mackenrode (Landkreis Göttingen) eines der führenden Schulungszentren für Neonazis in der Bundesrepublik, das der Schriftführer der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), Karl Polacek, aufgebaut hat. In Mackenrode ist auch der Europawahlkampf der FAP für Niedersachsen und Nordhessen geplant worden. Polacek, bei dem viele aktive Neonazis vorübergehend und dauerhaft untertauchen, brüstet sich auch mit angeblich wachsendem Zulauf bei seinen „Mädelgruppen“ im Landkreis Northeim.

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