: Leergefegte Regale in Berlins Bibliotheken
■ Lesehungrige Studenten aus dem Ostteil der Stadt können im Westen Bücher ausleihen / Starke Nachfrage nach medizinischer und sozialwissenschaftlicher Literatur / Größter Andrang in der Amerika-Gedenkbibliothek / Freie Universität ist noch zurückhaltend: Sie mißtraut dem Reformprozeß in der DDR
Weitreichende Konsequenzen kann die Öffnung der Mauer auch für die StudentInnen der Berliner Universitäten mit sich bringen, wenn sie demnächst feststellen, daß die für Prüfungen und Diplomarbeiten benötigte Literatur immer schwerer zu beschaffen ist oder die Lesesäle noch überfüllter sind als früher. In sämtlichen Berliner Bibliotheken ist eine starke und fast täglich zunehmende Nachfrage lesehungriger DDRler festzustellen. Besonders nachgefragt, so der stellvertretende Bibliotheksleiter der Freien Universität, Ulrich Naumann, ist sozialwissenschaftliche und medizinische Literatur. Zusätzliche Aufgaben gibt es für die Mitarbeiter von Bibliotheken vor allem im Auskunftsbereich. Die neuen Leser müssen nach den Erfahrungen von Naumann „die freie Suche nach Literatur lernen, ohne sich dabei an vorgegebenen Literaturlisten zu orientieren“.
Die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) vermeldete schon in der ersten Woche nach Öffnung der Mauer „leergefegte Regale“ und registrierte seitdem jeden Tag etwa 50 bis 60 neue Leser aus der gesamten DDR. Wie aus dem Sekretariat der Bibliotheksleitung zu erfahren war, erhält jeder Bürger der DDR nach Vorlage seines Personalausweises einen Benutzerausweis und kann sich dann an der AGB Bücher ausleihen. Um den Ansturm der lesehungrigen DDRler befriedigen zu können, lotet die AGB bei der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung bereits Möglichkeiten aus, ihren Bestand von rund einer Million Bücher, Zeitschriften und Schallplatten und den Personalbestand aufzustocken. Man will damit auch Unmutsäußerungen der bisherigen Stammkundschaft über die leeren Regale vorbeugen, die in Ansätzen, so die Bibliotheksleitung, bereits zu vernehmen waren.
Auch an der Technischen Universität sind schon die ersten Kommilitonen aus Ost-Berlin aufgetaucht. Hier will man zunächst aber einmal abwarten, wie sich die Lage entwickelt. An der TU können Studenten der Humboldtuniversität unter Vorlage ihres Studentenausweises einen Benutzerausweis beantragen und haben dann den gleichen Zugang zu den Buch und Zeitschriftenständen der TU wie alle Westberliner Studenten auch.
Erste Konsequenzen aus dem Andrang lesehungriger DDRler hat man dagegen bereits in der Staatsbibliothek gezogen, die nach der Öffnung des neuen Grenzübergangs am Postdamer Platz vom Ostberliner Zentrum bequem zu Fuß zu erreichen ist. Probleme ergeben sich, so der Leiter der Staatsbibliothek, Jacobi, vor allem im Auskunftsbereich, denn die neuen Benutzer müssen in die für sie fremden Ausleih- und Benutzermodalitäten eingewiesen werden. Aus diesem Grund, so Jacobi, wird das Personal der Staatsbibliothek in den nächsten Wochen verstärkt in diesem Bereich eingesetzt. Ob zusätzliche Mitarbeiter benötigt werden, um den erwarteten Ansturm zu bewältigen, wolle man erst einmal abwarten. Zu den 50 neuen Benutzerausweisen für West-Berliner und Bundesdeutsche, wie es vor der Öffnung der Mauer normal war, hat man hier am Freitag und Samstag letzter Woche über 70 Ausweise für DDR-Bürger zusätzlich ausgestellt. Die Vorlage des Personalausweises reicht bei der Staatsbibliothek aus, um eine Benutzerkarte zu erhalten. Auf der anderen Seite erwartet die Staatsbibliothek aber auch einen immensen Vorteil von der Öffnung der Grenzen, nämlich den erleichterten Zugang zu der zweiten Hälfte der etwa 400 Millionen Bände des Preußischen Kulturbesitzes. Die lagert im Ostteil Berlins „Unter den Linden“ und soll nach den Vorstellungen Jacobis über einen „Bücherautodienst“ jetzt auch interessierten Lesern im Westen problemloser und schneller als bisher zugänglich gemacht werden.
Einzig die Freie Universität zeigt sich wenig kulant gegenüber den zu erwartenden Leseratten aus der DDR. Hier, so der persönliche Referent von FU-Präsident Heckelmann, Robin Melchior, traue man dem Reformprozeß in der DDR nicht so recht und fürchtet, daß beim Grenzübertritt die Grenzorgane der DDR Bücher aus den Beständen der FU konfiszieren könnten. In den Lesesälen können Studierende aus der DDR deshalb ungehindert schmökern oder sich Kopien anfertigen, eine Ausleihe in den anderen Teil der Stadt ist aber, so das Edikt von FU-Präsident Heckelmann, nicht möglich. Dieser Entschluß der konservativen FU-Spitze, die Studierenden beispielsweise der Ostberliner Humboldtuniversität von der Ausleihe auszuschließen, ist nicht ohne Pikanterie, verdankt die Freie Universität ihre Existenz doch vor allem dem Aufbegehren von Studenten der Humboldtuniversität gegen die allgegenwärtige Bevormundung durch die SED. Für Ostberliner Studenten gibt es aber doch eine Möglichkeit, sich Bücher aus den FU-Bibliotheken auszuleihen, indem sie den Status eines Nebenhörers erwerben. Nebenhörer kann werden, wer Lehrveranstaltungen besuchen möchte, die an seiner Uni nicht angeboten werden. Und Nebenhörer können die Bibliotheken uneingeschränkt nutzen.
thol
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