: STÄDTISCHE WUNDER
■ Singspielkampf der Musikschulen: Revolution gg. Religion unentschieden
Seit Jahrhunderten sammeln sich Massen, sobald es um religiösen Umsturz, Revolution, Sport oder Handel/Schlußverkauf geht. Tempelhofer und Wilmersdorfer Musikschule können mit 130 beziehungsweise 180 Aktiven einen beachtlichen Beitrag zu allen vier Phänomenen leisten: Im Modecenter des Ullsteinhauses wird 200 Jahre regionale Revolution, in der Lindenkirche 450 Jahre Reformation gefeiert, was auf einen freundschaftlichen Wettkampf schließen läßt, da sich nahezu zeitgleich himmlische und irdische Erlösungshoffnungen in der Oper frei, wenn auch nicht hemmungslos, entfalten.
Aufstand der Fritzen, die Tempelhofer Revolutionsoperette, die eigentlich eine Oper ist, geht von der richtigen Annahme aus, daß die französische Revolution in Deutschland vor allem die Kochkunst bereichert hat beziehungsweise den Import von Lebensart (Völlerei für die Gemeinen, seidener Unterhosentraum für die Feinen) in die Provinzen vorangetrieben hat. Liberte wird über die Libido verbreitet, und die geht bekanntlich durch den Magen, der Aufstand findet im Berliner Wirtshaus statt, selbst die preußische Polizei wird durch Liebe besiegt, und am Schluß finden sich alle zu einem deutsch-französischen Revolutionsmahl zusammen. Allerdings findet das alles nur theoretisch statt; auf der Bühne wird kaum gegessen, „es wird schwer gezecht“ und „es wird kräftig gezecht“ steht nur im Programmheft, geliebt wird so gut wie kaum (öffentlich), erstes und alle weiteren Paare finden sich erst im dritten und letzten Akt zusammen (klarer Verstoß gegen Operettenprinzipien). Was nahelegt: Die - durch mannigfaltige Irren und Wirren aufgehaltene - Zubereitung eines revolutionären Gerichts ist eigentlicher Zweck der Übung (Dem Publikum war's recht; allerdings meinte ein Junge zu seiner Mutter: „Aber wo ist das Politische?“) Tatsächlich ziehen sich als Leitmotiv (und das ist wiederum operettenvorbildhaft) durch die Handlung: „Tomaten! Mit fernöstlichen Aromaten! Dazu die Wurst aus Brandenburg.“ (ganz ohne Vorsatz aktuell ddr-integrativ).
Wenn dann diese Tomaten (später das französische Baguette) mit größter Sopranemphase von seiten der Protagonistinnen Corvette (Doris Löschin) und ihrer Perle Conradine (Silvia Bischkowski) oder voluminöser von der Köchin Luise Davidis (Brigitte Ganady) besungen werden, nehmen sich die Tempelhofer Salonrevoluzzerinnen selber auf die Schippe. Oft gehen aber die ironischen Texte in der revolutionären Dissonanz voller „unaufgelöster Dominantseptakkorde“, wie stolz im Programm konstatiert wird, unter (Text und Musik Ulrich Bauer), und damit der Witz. Dabei ist die Handlung wirklich schön haarsträubend. Ein Salon wird gegründet, weil der Erfinder des „Henkomaten“, der deutschen Alternative zur Guillotine, durch Selbstversuch seine Frau zur beschäftigungslosen Witwe gemacht hat; die Liberte hält Einzug durch einen kochwütigen Franzosen von charmantem Snobismus (Harry Tchor), den man im Arbeitszimmer einfach so auffindet, bei einer Volksversammlung scheitert die willkürliche Hinrichtung des Gauners Ede nur an der konfusen Diskussion linker und rechter Kneipenparteien und der Frauenfraktion (aus dem Leben gegriffen: „Es geht ums Prinzip. Frauen! Wir sind's leid. Wir sind auch echt betroffen.“ - „Wir danken den Frauen. Doch das ist hier nicht das Problem.“) beziehungsweise an der preußischen Polizei beziehungsweise an der glücklichen Vollendung des deutsch-französischen Versöhnungsmahls, womit der Aufstand einen würdigen Abschluß im Kochwunder findet.
Die Wilmersdorfer Oper Damaskus dagegen, die wirklich eine Oper ist - jedes einzelne Wort in mehreren Intervallen vertont - und dazu ein Auftragswerk der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg, hat, wie es die Art der Kirche ist, das Wunder immer schon hinter sich. Zu erarbeiten ist nicht seine Erfüllung, sondern seine Verbreitung. Weil aber die Wandlung des Saulus zum Paulus heutzutage nicht mehr so einfach zu vermitteln ist, klaut Librettist Oliver Sturm vom Film. In einer Gerichtsverhandlung muß Paulus (Dirk Sagemüller) seine Wende verantworten, verschiedene Zeugen treten auf und treiben durch inszenierte Rückblenden die Handlung in Gang. Auch hier also Geschichte von unten, aber metapherndurchweht. Denn gleich zu Anfang läßt Kafka grüßen: Paulus steht nicht nur vor einer schwer expressionistisch anmutenden hohen Kanzel rotberobter Richter, sondern vor dem Gesetz der Juden und überhaupt. Die Versuchung, Verführung lauert hier - welch schöne liberale und positiv besetzte Variante der katholischen Frauenurangst - in Gestalt der christlichen Schauspielerin Thekla (Maria Philipps): „Wir sind die Unordnung, die Versuchung. - Die Sünde“. Sinnlichkeit - die moderne evangelische Botschaft?
Aber auch hier zeigt man Hemmungen, die Botschaft auf der Bühne auszuleben. Eine „recht grausame, martialische Szene“ (Programm), in der Noch-Saulus im beinfreien Tuch von zwei Männern in einen Anzug gezwängt wird nach Bühnenanweisung durch „fleischliche Versuchungen zur Sünde“ illustriert. Im Hintergrund sieht man aber nur drei schwarz gekleidete Frauen, die einen Knaben auf dem Schoße hin- und herbetten. Das Gegenstück ist die peinlicherweise inszenierte Pieta, gleich in mehrfacher Version - um die göttliche Erscheinung zu dokumentieren? Darf man das bei Religion von unten?
Inszenierung (Oliver Sturm) wie Musik (Winfried Radeke) setzen ganz auf expressionistizistisches Pathos, was der sonstigen Bemühung um Bodenständigkeit einen missionarischen Zug verleiht. Einmal immerhin kippt die Szenerie ins Absurde um: Wenn Paulus vor historistischer Kulisse Initiationsriten übt: „Ist es erlaubt? Ist es gestattet? Darf ich?“ und ein Schwarzer-Damen-Chor antwortet: „Aber gerne“. Da erreicht der ernste Paulus komisches Format.
Von tieferer Wahrheit sind beide Stücke durchdrungen. In Damaskus wird in Form eines mittelalterlichen Mysterienspiels der Ausverkauf des modernen Proletariats vorgeführt. Verschiedene Arbeitslose, ob verarmter Lehrer, Bäcker, Architekt oder Friseuse blitzen beim reichen Mann ab. Nur ein hübsches, natürlich dummes Mädchen hat Chancen. Die Reichen dagegen ergehen sich in Langeweile und daraus bedingten Schmerzen. Und im Aufstand der Fritzen wird persi-brechtisch ein Ganovenleben zum herzerweichenden sozialen Lehrstück (übrigens auch sehr schön singbar):
Ich armer, armer Ede.
(Chor nach jeder Strophe) Ede ist so arm dra
Vater aus Worpswede.
War ein Fischersmann.
(...) Mutter mußte putzen gehn.
Schwester wurde schizophren
Ede wollte Kunst studiern,
Muß nun in die Röhre sehn.
Mutter kam aus Tempelhof.
Trieb's mit jedem. Vater soff.
(...) Vater war Fürst zu und von.
Mutter saß nur im Salon.
Aus lauter Einsamkeit
Hab ich ein Kind gezeugt.
Ach! Ich muß nach Kanada
Bäume fällen. Vierzig Jahr.
Kam zurück nach Deutschland.
Niemand hat mich wiedererkannt.
Hab kein Geld, hab kein Ehr.
Nur das Ende ist spektakulär.
... 1:0 für Tempelhof.
DoRoh
Damaskus“ nur noch heute um 20 Uhr in der Lindenkirche, Homburger-/Binger Straße, Karten zum Preis von 15/10 Mark in der Küsterei der Lindenkirche. „Aufstand der Fritzen“ nur noch heute bis Sonntag, 20Uhr im Ullsteinhaus.
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