: Indiens Wähler in der Klemme
Gestern haben in Indien die neunten Parlamentswahlen seit der Unabhängigkeit begonnen / 500 Millionen Wähler und Wählerinnen haben nach Meinung politischer Kommentatoren die Wahl zwischen zwei Übeln / Hauptkontrahenten um das Amt des Premierministers: Rajiv Gandhi und V.P. Singh ■ Von Walter Keller
„Mit der Congress-Partei und Rajiv Gandhi bleibt Indien stark und vereint“, heißt es auf riesigen Plakatwänden, die überall in den großen Städten aufgestellt werden. In den indischen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen - von denen die meisten nicht gerade zimperlich mit Gandhi und seiner Partei umgehen, erscheinen seit Wochen ganzseitige Anzeigen des regierenden „Congress (I)“. Unter der Überschrift „Mein Herz schlägt für Indien“ wird darin der Untergang des Subkontinents für den Fall heraufbeschworen, daß eine aus „Opportunisten und Kommunalisten bestehende Opposition“ die Regierungsgeschäfte übernimmt. Umgerechnet fast 50 Millionen Mark hat die Partei von Premier Gandhi für Zeitungsanzeigen, Video- und Audiokassetten ausgegeben, um den 500 Millionen Wahlberechtigten die Vorzüge der Partei der Nehru-Dynastie vor Augen zu führen. Von den 42 Jahren, die seit der Unabhängigkeit vergangen sind, hat sie 40 Jahre lang das Riesenland regiert.
7.000 Kandidaten
Bei den Parlamentswahlen, die vorgestern begonnen haben und heute und am Sonntag fortgesetzt werden, bewerben sich 7.000 Kandidaten um die 527 der insgesamt 545 Sitze in der indischen „Lok Sabha“. Beobachter erwarten ein Kopf-an-Kopf -Rennen zwischen der regierenden „Congress (I) Partei“ von Premier Rajiv Gandhi und einer aus mehreren Parteien bestehenden „National Front“. Die „National Front“ mit ihrem Spitzenkandidaten Vishwananath Pratap Singh hat in über 400 Wahlbezirken zusätzliche Absprachen mit der hindu -fundamentalistischen „Bharata Janata Party (BJP) und den Kommunisten getroffen. In den meisten Wahlbezirken wird es deshalb zu einem direkten Vergleich zwischen einem Kandidaten des „Congress“ und einem der breiten Opposition kommen.
Wahlkampfthema „Bofors“
Die Opposition hat versucht, Rajiv Gandhi mit der sogenannten „Bofors-Affäre“ zu Fall zu bringen: Für das Zustandekommen eines Vertrages, der im März 1986 zwischen der indischen Regierung und dem schwedischen Rüstungskonzern „Bofors“ über die Lieferung von 155-Millimeter-Feldhaubitzen im Wert von umgerechnet etwa 2,5 Milliarden Mark unterzeichnet wurde, soll der Konzern sogenannte „kickbacks“ an hochrangige indische Offizielle gezahlt haben. Dies wurde auch in einem Bericht des indischen Rechnungshofes vom Juli dieses Jahres bestätigt. Die Bombe platzte, als vor wenigen Wochen der südindische 'Hindu‘ bisher geheimgehaltene Papiere des schwedischen Unternehmens veröffentlichte, in denen von Bestechungsgeldern an Personen die Rede ist, „die sich für das Geschäft eingesetzt haben“. Indische Agenten von Bofors sollen demnach umgerechnet 100 Millionen Mark „Kommission“ erhalten haben. Unklar bleibt, wer das Geld letztlich erhalten hat. Eine Spur scheint in die Richtung des Gandhi-Imperiums zu führen - aber Rajiv Gandhi streitet nach wie vor jede Beteiligung und jedes Wissen ab.
Während der letzten Wochen hat dieser Skandal die Berichterstattung in den Zeitungen und Zeitschriften beherrscht - Rundfunk und Fernsehen werden von der Regierung kontrolliert. Ob er das Abstimmungsverhalten einer breiten Wählerschaft beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Zum Vorteil von Rajiv Gandhi könnte sich auswirken, daß der Streit um die schwedischen Zuwendungen an der ländlichen Bevölkerung, die wahlentscheidend ist, vorbeiging. „Die meisten Menschen auf dem Land wissen gar nicht, was 'Bofors‘ bedeutet“, heißt es. Da es in Indien keine Wahlkampfkostenerstattung durch den Staat gibt, bleiben den Parteien oft nur dubios anmutende Geschäfte, um sich zu finanzieren. Es ist also kaum verwunderlich, daß es in Indien nicht wenige gibt, die keine Einwände gegen die Zahlungen von „Provisionen“ bei der Vergabe von Regierungsaufträgen haben, sofern sie als „Parteienspende“ zurückfließen. Aufschreien würden sie nur, wenn solche Gelder in privaten Taschen verschwinden.
Während das Rüstungsgeschäft mit Bofors den Wahlkampf der Opposition beherrschte, hat Gandhis „Congress“ immer wieder die Unfähigkeit der Opposition betont, das Riesenland ins 21.Jahrhundert zu führen. Außerdem sei die Opposition „gegen den kleinen Mann“. Der Vorhalt wird damit begründet, daß die Opposition gegen einen Gesetzesentwurf gestimmt hat, der den Hunderttausenden von Kommunen mehr Mitbestimmung bringen sollte.
Rajiv Gandhi hat während der letzten Wochen eine Mammut -Wahlkampftour durch den Subkontinent unternommen. Innerhalb von sechs Wochen hat er mit einem nur ihm als Regierungschef zustehenden Flugzeug über 200 Wahlbezirke besucht und dabei zwölf Projektvorhaben mit einem Gesamtvolumen von umgerechnet zehn Milliarden Mark versprochen. Ob sich solche „hand outs“ in Stimmen umsetzen lassen, ist zweifelhaft. Die Bevölkerung weiß, daß Wahlkampfversprechen selten eingehalten werden.
Unruhen im Hindi-Belt
Entscheidend für das Abschneiden aller Parteien wird das Wahlverhalten der sogenannten vote-banks sein. Dazu zählen die etwa 100 Millionen indischen Moslems und die fast 200 Millionen sogenannten „Unberührbaren“, die außerhalb des rigiden Kastensystems der Hindus stehen, in das die indische Gesellschaft eingeteilt ist.
Obwohl Indien ein säkularer Staat ist, sind Religion und Politik heute stärker miteinander verwoben als je zuvor. Regionale Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems, nicht selten zum eigenen Nutzen von politischen Parteien angezettelt, erschüttern mehr und mehr die indische Gesellschaft. Vor allem im sogenannten Hindi-Belt, zu dem die nördlichen Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar, Madhya Pradesh und Rajasthan gezählt werden und wo rund 40 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung des Landes leben, kommt es immer wieder zu schweren Unruhen mit Hunderten von Toten. „Es sind Gewalttaten, die in erschreckender Weise an die Greueltaten während der indischen Teilung 1947 erinnern“, schreibt eine indische Zeitschrift.
Nach einigen widersprüchlichen Entscheidungen kann sich vor allem Gandhis Partei der Stimmen der Moslems nicht mehr so sicher sein wie früher. Da das Votum der islamischen Bevölkerungsteile in nahezu 100 der 527 Wahlbezirke wahlentscheidend ist, wird das Abstimmungsergebnis vor allem in der Hochburg der Moslems, im Bundesstaat Uttar Pradesh (80 Millionen Wahlberechtigte), mit Spannung erwartet. Im gleichen Bundesstaat hat der „Congress (I)“ jedoch auch die hinduistische Bevölkerung durch eine Maßnahme verärgert: Kürzlich wurde dort - offensichtlich auf kurzfristige Vorteile bedacht - „Urdu“, die Hauptsprache der Moslems, zur zweiten Amtssprache erhoben. Es sind vor allem die fundamentalistischen Hindu-Gruppierungen und Parteien, die daran Kritik üben.
Außen- und Wirtschafts
politik nur am Rande
Wegen der Dominanz der Bestechungsaffäre ist es nicht verwunderlich, daß außen- und wirtschaftspolitische Themen nur eine sekundäre Rolle im Wahlkampf gespielt haben. Die traditionell sehr engen indisch-sowjetischen Beziehungen sind während der Regierungszeit Rajiv Gandhis stabil geblieben, während das Verhältnis zu den kleineren Nachbarn Nepal und Sri Lanka einen Tiefpunkt erreicht hat. Indien kann jedoch wegen der Veränderungen in der sowjetischen Außenpolitik nicht mehr in allen Situationen auf die uneingeschränkte Unterstützung und Zustimmung der UdSSR bauen. Die indisch-amerikanischen Beziehungen haben sich während der vergangenen fünf Jahre erheblich verbessert, was vor allem auf die zunehmende Öffnung des indischen Marktes und die von Gandhi begonnene Liberalisierungspolitik zurückzuführen ist. Ausländische Investitionen sind in Indien nicht mehr nur zugelassen. Gandhi und seine jungen Berater setzten alles daran, vermehrt ausländisches Kapital anzuwerben. Diese veränderte Wirtschaftspolitik hat zu einem dramatischen Anstieg der indischen Auslandsverschuldung beigetragen und die Inflation beschleunigt. Indiens Schulden werden derzeit auf etwa 120 Milliarden Mark geschätzt.
Einige indische Kommentatoren glauben, die indischen Wähler seien noch nie so zu bedauern gewesen, wie bei den jetztigen Parlamentswahlen. „Sie haben die Wahl zwischen einem korrupten 'Congress‘ und einem aus mehreren regionalen und chauvinistischen Parteien zusammengewürfelten oppositionellen Bündnis, das wohl kaum in der Lage sein wird, eine stabile Regierung zu bilden“, meint einer der bissigsten indischen Zeitungskommentatoren, Cho Ramaswamy.
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