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Aufruhr im Hause Inönü

Massenaustritte aus der türkischen sozialdemokratischen Partei nach dem Ausschluß von sieben kurdischen Abgeordneten, die an einer internationalen Kurdenkonferenz teilgenommen hatten  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der sozialdemokratische Abgeordnete Kamer Geno zog einen bitteren Vergleich: „Selbst die Kriegsgerichte urteilen nicht so willkürlich wie der Disziplinarausschuß unserer Partei.“ Wegen Teilnahme an einer internationalen Konferenz über „die kulturelle Identität der Kurden und Menschenrechte“ Mitte Oktober in Paris hatte die Partei vergangenen Freitag sieben Abgeordnete aus der Partei ausgeschlossen. Die Teilnahme von Sozialdemokraten an einer öffentlichen Debatte über die Kurdenfrage wurde als „parteiwidriges Verhalten“ eingestuft.

Ein düsteres Bild vom Zustand der Partei zeichnet der Abgeordnete Cüneyt Canver: Die Führung habe die Partei zu dem Punkt gebracht, wo Folter, Gefängnisse und Menschenrechte nicht mehr diskutiert würden. Und künftig auch nicht mehr die kurdische Frage. Jetzt bekam die Partei die Bescherung: Neun Stadtverbandsvorstände in Kurdistan sind aus der Partei ausgetreten. Aufgebrachte Genossen im südöstlichen Urfa montierten gleich das Emblem der Partei vom Stadtverbandsbüro ab. Massenaustritte werden aus dem Südosten des Landes gemeldet. In Kurdistan ist die Partei in Auflösung.

Fünf Abgeordnete des linken Flügels zogen gestern die Konsequenzen und traten aus der Partei aus. Mit dem Ausschluß sei „das Faß übergelaufen“, so der Abgeordnete Abdullah Bastürk, einer der bekannten Gewerkschafter im Parlament. Die Gründung einer neuen Partei ist im Gespräch. Bei 20 Abgeordneten - so rechnet einer der Ausgetretenen vor - ist es sogar möglich, eine Fraktion in der Nationalversammlung zu bilden.

Welche Auswirkungen dieser Erosionsprozeß auf die Sozialdemokraten haben wird, bleibt abzuwarten. Die größte Oppositionspartei, die sich als Hüterin der Menschenrechte preist und die Demokratisierung der türkischen Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben hat, hält jedenfalls nicht viel von innerparteilicher Demokratie. Mit Unnachgiebigkeit werden Kritiker in den eigenen Reihen zum Schweigen gebracht. Bis heute sind 150 Ortsvereinsvorstände, die sich der Linie des Parteivorsitzenden Erdal Inönü und des Generalsekretärs Deniz Baykal nicht beugten, amtsenthoben worden. Die Parteispitze betreibt die Aussöhnung mit dem politischen System, welches die Militärs nach dem Putsch 1980 etablierten. Und in der Kurdenfrage deckt sich die Parteidoktrin offenkundig mit der Staatsdoktrin. „Im Ausland gibt es übertriebene Behauptungen, daß Bürger kurdischer Abstammung in der Türkei großem Unrecht ausgesetzt sind“, urteilte Inönü jüngst in einem Interview.

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