Referendum über Präsidentenwahl in Ungarn

Herrschende Sozialistische Partei setzt auf schnellen Urnengang im Januar / Oppositionsparteien fordern Wahl des Staatsoberhauptes durch das zukünftige Parlament und wollen bis zum Frühjahr warten / Demokratisches Forum rief zum Boykott des Referendums auf / Abstimmung auch über Offenlegung des Parteivermögens  ■  Aus Budapest Tibor Fenyi

„Volksentscheid gegen den Brückenschlag zur Macht“ lautet die Parole, mit der sich vier ungarische Oppositionsparteien gegen eine Direktwahl des Staatspräsidenten Anfang nächsten Jahres wenden. Der Grund: Ein so baldiger Termin noch vor den Parlamentswahlen im Frühjahr würde der herrschenden, ehemals kommunistischen Sozialistischen Partei (USP) entscheidende Vorteile verschaffen. Am gestrigen Sonntag waren nun acht Millionen Ungarn aufgerufen, in einem Referendum ihr Votum über diese Frage abzugeben. Sollte die Wahlenthaltung bei dieser ersten freien Volksabstimmung in Osteuropa über 50 % liegen, ist das Referendum ungültig und die Wahl des Staatspräsidenten findet zwischen dem 7. und 14.1. statt. Aussichtsreichster Kandidat wäre dann Imre Poszgay von der Sozialistischen Partei.

Das Referendum geht zurück auf eine Initiative des oppositionellen Verbandes Freier Demokraten. Der Verband Junger Demokraten, die Sozialdemokratische Partei und die Partei der unabhängigen Landwirte schlossen sich an. Sie fordern, daß der Präsident vom Parlament ernannt wird. Bei den Wahlen zur Volksvertretung im Frühjahr rechnen sich die Oppositionsparteien größere Chancen aus. Außerdem stehen zur Abstimmung: Der Rückzug von Parteiorganisationen aus den Betrieben, die Auflösung der Arbeitermilizen und die Offenlegung des Parteivermögens. Die Verhandlungen über den Umbau des politischen Systems und damit auch die Durchführung von Wahlen sind seit dem Frühjahr im Gange. In den Fragen, über die die ungarische Bevölkerung gestern entscheiden mußte, konnte keine Einigung erzielt werden. Im Rahmen der Debatte sprachen sich Vertreter der herrschenden Partei dafür aus, den Posten des Staatsoberhauptes selbst zu besetzen und mit weitgehenden Befugnissen auszustatten. Damit könne die sowjetische Führung beruhigt werden, daß ein Erdrutsch nicht zu erwarten sei. Einen Kandidaten gab es auch schon: Imre Poszgay, einziger Politiker, der sich aus den Trümmern der Kommunistischen Partei in die neue Zeit hinüberretten konnte.

In den Reihen der Opposition hieß es demgegenüber, die künftige ungarische Demokratie werde geschwächt, wenn an der Spitze ein allzu starkes Staatsoberhaupt stehe, noch dazu ein Vertreter jener Partei, der die Bevölkerung längst keinen Glauben mehr schenkt. Ein starker Präsident Poszgay stehe für die Kontinuität des kommunistischen Systems, besonders dann, wenn die verhaßten Parteisekretäre nicht aus den Fabriken entfernt werden, der 60.000 Mann starke Stoßtrupp der KP-Arbeitermiliz nicht aufgelöst wird und die Kommunisten die Güter, die sie nach der Auflösung der anderen Parteien in den 40er Jahren an sich rissen, nicht den rechtmäßigen Besitzern zurückgeben. In diesen Fragen jedoch zeigte Rezso Nyers, Vorsitzender der USP, nicht die geringste Nachgiebigkeit. Selbst auf dem Parteitag, auf dem sich die USAP zur USP wandelte, erklärte er, der Minister für Verteidigungswesen habe ein Projekt entwickelt, demzufolge die Arbeitermiliz ihren Namen verändern, aber weiterbestehen bleiben soll. Außerdem setzte er sich für eine schnelle Präsidentschaftswahl ein. Als aber die Freien Demokraten innerhalb beispiellos kurzer Zeit über 200.000 Unterschriften und damit doppelt soviele wie nötig für die Forderung eines Volksentscheides sammelten, mußte die Partei einsehen: Die Bevölkerungsmehrheit akzeptiert diesen Standpunkt nicht.

Schützenhilfe erhielt die USP von dem stärksten Widersacher der Freien Demokraten: der größten ungarischen Oppositionsbewegung Demokratisches Forum. Der Zusammenschluß akzeptierte das Argument, einzig ein Staatsoberhaupt aus den Reihen der KP könne Moskauer Befürchtungen über einen Parteizerfall beruhigen. Die Ereignisse in Berlin, Prag und Sofia scheinen diese Behauptung keineswegs zu untermauern. Das Demokratische Forum konnte jedoch nicht ohne Gesichtsverlust seinen Standpunkt ändern. Es forderte auf, sich bei dem Referendum zu enthalten und so - indirekt - die Kommunisten zu unterstützen.